Karl Kraus ca. Sozialdemokrat

Prag
10.08.1934 – 27.10.1937

[193.] Nach Erscheinen des umfangreichen Fackel-Heftes 890-905 spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen der sozialdemokratischen Exilantenpresse und Kraus (siehe auch Akt 187 und Akt 189) weiter zu.

Im Sozialdemokrat erschien ein Artikel mit Angriffen gegen Kraus, der "sehr laut für den Austrofascismus Partei" ergreife. Karl Kraus und Samek klagten, vertreten durch den Prager Rechtsanwalt Johann Turnovsky, den verantwortlichen Redakteur Emil Strauss wegen Nachrede und Verleumdung. Turnovsky gab allerdings zu bedenken, dass die Richter in beiden Prager Pressesenaten "durchaus sozialdemokratisch orientiert" seien und das zum Problem werden könne (siehe 193.13 und 193.15). Der gegnerische Anwalt Egon Schwelb verkündete nun, er werde den Wahrheitsbeweis für die im Artikel aufgestellten Behauptungen antreten und beweisen, dass Kraus' Standpunkt "in absolutem Widerspruch zu alledem, das der Privatkläger Jahrzehnte hindurch geschrieben und verkündet hat" stehe. Diesen Beweis werde er durch Vorlesung der entsprechenden, übersetzten Fackel-Artikel erbringen.

Kraus versuchte vor allem durch Hinweis auf seine Schrift "Hüben und Drüben" zu belegen, dass er die sozialdemokratische Führung schon viel früher immer wieder angegriffen habe, jedoch nie die Arbeiterschaft. Er überließ es aber Samek und Turnovsky, "Hüben und Drüben" entsprechend auszuwerten. Zum einen litt er in dieser Zeit stark unter Rheumatismus, zum anderen erklärte Samek: "Ich konnte Herrn K. nicht bewegen, dies selbst zu tun oder auch nur zu überprüfen, weil er eine Pein empfindet, schon veröffentlichte Sachen wieder zu lesen." (193.41)

Ein weiterer wichtiger Punkt in der Argumentation der Krausschen Anwälte wurde ein kurz zuvor von Emil Franzel geschriebener und im Sozialdemokrat veröffentlichter Artikel zu Kraus' 60. Geburtstag, der Kraus als "Sozialisten", wenn auch nicht "Sozialdemokraten", lobte. Da es sich, vor allem was Kraus eigene Artikel anging, um hochkomplexes, sehr schwer zu übersetzendes Material handelte, wurde es für Turnovsky sehr schwer, dem Gericht Kraus' Anliegen und Sache begreiflich zu machen. Das Gericht genehmigte den gewissermaßen absurden, höchst zeit- und kostenaufwendigen Beweisantrag der Gegenseite, drei Dramen von Kraus (u.a. "Die Letzten Tage der Menschheit") und viele Fackel-Hefte übersetzen zu lassen.

Dieser Antrag zielte (wie auch den Briefen Egon Schwelbs im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes zu entnehmen ist) auf eine Verschleppung und Sabotierung des Verfahrens hin, die auch gelang. Turnovsky, Samek und Kraus versuchten gegen die "monströse" Beweisaufnahme, die unerfüllbar sei und nicht zur Sache gehöre, aufzutreten und zugleich die Delegierung des Prozesses nach Leimeritz zu verhindern – beides gelang, doch die Gegner stellten nun einen neuen Beweisantrag, der auf Zeugenaussagen basierte.

Ende November 1935 erschien ein weiterer, Kraus beleidigender Artikel im Sozialdemokrat, woraufhin abermals eine Presseklage wegen Ehrenbeleidigung gegen Emil Strauss eingebracht wurde. In Sachen dieser zweiten Klage wurde Ende Januar 1936 ein Vergleich abgeschlossen. Emil Strauss veröffentlichte eine Satisfaktionserklärung, übernahm die Prozesskosten und spendete einen Sühnebetrag.

In den folgenden beiden Monaten diskutierten Samek und Turnovsky den neuen gegnerischen Beweisantrag und wie darauf zu reagieren sei, als Turnovsky plötzlich mitteilen musste, dass ihm – unwissentlich – ein Formfehler unterlaufen war: Durch den Abschluss des Vergleiches mit Emil Strauss in der Angelegenheit des Artikel vom November 1935, sei Kraus des Klagrechts im ersten Prozess verlustig geworden. Der Sozialdemokrat und auch andere Prager Zeitungen stellten in den folgenden Tagen triumphierend diesen Ausgang des Prozesses als "Freispruch" und Sieg für Emil Strauss dar. Kraus, Samek und Turnovsky versuchten durch diverse Berichtigungsschreiben, diesen falschen Schein zu berichtigen – weitgehend erfolglos.

Turnovsky legte gegen das Urteil, dass Kraus sein Verfolgungsrecht durch den Vergleich eingebüßt habe, Nichtigkeitsbeschwerde ein. Er riet aber davon ab, Emil Strauss und Egon Schwelb wegen der falschen Darstellungen in ihrem Bericht über den Ausgang des Prozesses (im April 1936) zu klagen, da die Schwierigkeiten mit den Prager Pressesenaten immer schlimmer würden. Samek schrieb: "Dass gegen den erweckten Anschein, Herr Dr. Strauss sei auf Grund eines durchgeführten Wahrheitsbeweises freigesprochen worden, nicht mit einer Ehrenbeleidigungsklage vorgegangen werden kann, beschäftigt Herrn K. ungemein, und er findet, dass es eine unerträgliche Situation ist, nichts dagegen machen zu können." (193.137).

Auch von weiteren Ehrenbeleidigungsklagen in dieser Sache riet Turnovsky ab, da den Pressesenaten nur schwer verständlich gemacht werden könne, wie ein Thema Gegenstand dreier Prozesse werden könne: "Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich trotz allen hier angeführten Erwägungen bereit bin, die von Ihnen entworfene Klage zu überreichen und nach besten Kräften vor Gericht zu vertreten und dass mich nicht Bequemlichkeit oder sonstige persönliche Gründe veranlasst haben, dem von Herrn K. und ihnen in Aussicht genommenen Prozessen zu widerraten." (193.143)

Wenige Tage später starb Karl Kraus, der in den vergangenen Wochen immer wieder krank gewesen war. Kraus' Brüder führten die Prozesse weiter, die Ehrenbeleidigungsklage wegen des falschen Prozessberichts war nun doch eingebracht worden. Das Oberste Gericht in Brünn lehnte Turnovsky Nichtigkeitsbeschwerde schließlich ab. Mit Egon Schwelb, der schließlich auch noch eine Disziplinaranzeige gegen Turnovsky einzubringen versuchte, einigten sich Turnovsky und Samek in der Sache des falschen Prozessberichtes schließlich auf eine abzugebende Ehrenerklärung des Beklagten. Samek dankte Turnovsky in seinen letzten Briefen nochmals innig für seinen Einsatz und hoffte, diesen Dank auch öffentlich machen zu können. (ab 193.187).