Karl Kraus las Freitag, Samstag und gestern im Mozarteum vor. Der glänzendste Stilist, der genialste Pamphletist, der temperamentvollste Barbarenhasser dieser Zeit zu sein, genügt ihm nicht mehr; er schreibt und liest seit einigen Jahren leider auch lyrische Gedichte, die nur als verfrühte, melancholisch stimmende Alterserscheinung gedeutet werden können. Man hört jetzt, wenn Karl Kraus liest: einen hinreißenden Essayisten, einen mittelmäßigen Bänkelsänger und einen miserablen Lyriker; mit einem Wort: einen »Liebling«, dessen Perlen und Dreck mit der gleichen Begeisterung von den Verehrern Kraus’ hingenommen werden. Erstaunlich bleibt nur, daß Kraus nicht zu merken scheint, in wessen Nachbarschaft er gerät, indem er als Wien-Berlin-Prag-Budapester Liebling endet. L. W.
[Bohemia zitiert in: Die Fackel 546-550, 07.1920, 28] - zitiert nach Austrian Academy Corpus