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THEATER DER DICHTUNG
Darsteller: Karl Kraus
I.
Helena
Faust, der Tragödie zweiter Teil, III. Akt. Von Goethe.
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Improvisierte Musik: Franz Mittler
II.
Zum ersten Mal:
Die zwei Brüder,
aus der Sammlung »Kinder- und Hausmärchen« von Jakob und Wilhelm Grimm. —
Improvisierte Musik von Franz Mittler
III.
Raimund
Der Alpenkönig und der Menschenfeind, I. Akt, Szenen 7, 11 bis 21
(Musik von Wenzel Müller)
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Begleitung: Franz Mittler
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Daß die musikalische Untermalung des Chors (auch zur Abhebung von Helena und Panthalis) und insbesondere der ganzen Euphorion-Handlung für den Vortrag unerläßlich ist förderlicher mit improvisierter als mit komponierter Musik —, wäre selbst dann klar, wenn nicht aus Eckermanns Gesprächen mit Goethe geradezu die Absicht einer opernhaften Gestaltung hervorginge:
— — »Der erste Teil« (der »Helena«), sagte Goethe, »erfordert die ersten Künstler der Tragödie, sowie nachher im Teile der Oper die Rollen mit den ersten Sängern und Sängerinnen besetzt werden müssen. Die Rolle der Helena kann nicht von einer, sondern sie muß von zwei großen Künstlerinnen gespielt werden; denn es ist ein seltener Fall, daß eine Sängerin zugleich als tragische Künstlerin von hinlänglicher Bedeutung ist.«
(Es ist der szenisch kaum ausführbare Gedanke einer Doublierung, über die nach hundert Jahren gestaunt wurde, da sie der Vortragende als Wortregisseur im Rundfunk für Offenbachrollen vornahm. Er hat nicht bloß die Seltenheit erfahren, daß eine Sängerin zugleich als komische Künstlerin von hinlänglicher Bedeutung ist, sondern daß es gar nicht vorkommt; und dies gilt natürlich auch von den Sängern. Es ist schwer, Schauspielern das Sprechen, doch immer noch leichter ihnen das Singen beizubringen, als jenen beides. Wohl gab es zuweilen die Freude an einer entdeckten und entwicklungsfähigen Doppelgabe, welche dann bald wieder unter die Hände der »Regie« kam. Gerade bei Offenbach zeigt sich, welch ein Muster ohne Wert ein Kopf ist, der bloß aus Kehle besteht. Ein Unum und Unikum beider Wirksamkeiten wie Richard Mayr kehrt nicht wieder.)
»Das Ganze«, sagte ich, »wird zu großer Pracht und Mannigfaltigkeit in Dekorationen und Garderobe Anlaß geben .. Wenn nur ein recht großer Komponist sich daran machte!« — »Es müßte einer sein«, sagte Goethe, »der wie Meyerbeer lange in Italien gelebt hat, sodaß er seine deutsche Natur mit der italienischen Art und Weise verbände. Doch das wird sich schon finden, und ich habe keinen Zweifel; ich freue mich nur, daß ich es los bin. Auf den Gedanken, daß der Chor nicht wieder in die Unterwelt hinab will, sondern auf der heitern Oberfläche der Erde sich den Elementen zuwirft, tue ich mir wirklich etwas zugute.« — »Es ist eine neue Art von Unsterblichkeit«, sagte ich. — —
29. Januar 1827
Darauf bei Tische waren wir sehr heiter. Der junge Goethe hatte die »Helena« seines Vaters gelesen und sprach darüber mit vieler Einsicht eines natürlichen Verstandes. Über den im antiken Sinne gedichteten Teil ließ er eine entschiedene Freude erblicken, während ihm die opernartige romantische Hälfte, wie man merken konnte, beim Lesen nicht lebendig geworden.
»Du hast im Grunde recht, und es ist ein eigenes Ding« sagte Goethe. »Man kann zwar nicht sagen, daß das Vernünftige immer schön sei; allein das Schöne ist doch immer vernünftig, oder wenigstens es sollte so sein. Der antike Teil gefällt dir aus dem Grunde, weil erfaßlich ist, weil du die einzelnen Teile übersehen und du meiner Vernunft mit der deinigen beikommen kannst. In der zweiten Hälfte ist zwar auch allerlei Verstand und Vernunft gebraucht und verarbeitet worden; allein es ist schwer und erfordert einiges Studium, ehe man den Dingen beikommt und ehe man mit eigener Vernunft die Vernunft des Autors wieder herausfindet.«
18. April 1827
Da die »Helena« einmal zur Sprache gebracht war, so redete Goethe darüber weiter. »Ich hatte den Schluß«, sagte er, »früher ganz anders im Sinne .... Dann brachte mir die Zeit dieses mit Lord Byron und Missolunghi .. Aber haben Sie bemerkt, der Chor fällt bei dem Trauergesang ganz aus der Rolle; er ist früher und durchgehends antik gehalten oder verleugnet doch nie seine Mädchennatur, hier aber wird er mit einemmal ernst und hoch reflektierend und spricht Dinge aus, woran er nie gedacht hat und auch nie hat denken können.«
»Allerdings«, sagte ich, »habe ich dieses bemerkt; allein seitdem ich Rubens’ Landschaft mit den doppelten Schatten gesehen, und seitdem der Begriff der Fiktionen mir aufgegangen ist, kann mich dergleichen nicht irremachen. Solche kleine Widersprüche können bei einer dadurch erreichten höhern Schönheit nicht in Betracht kommen. Das Lied mußte nun einmal gesungen werden, und da kein anderer Chor gegenwärtig war, so mußten es die Mädchen singen.«
»Mich soll nur wundern«, sagte Goethe lachend, »was die deutschen Kritiker dazu sagen werden; ob sie werden Freiheit und Kühnheit genug haben, darüber hinwegzukommen .... Wenn durch die Phantasie nicht Dinge entständen, die für den Verstand ewig problematisch bleiben, so wäre überhaupt zu der Phantasie nicht viel. — —«
5. Juli 1827
»— — Maler, Naturforscher, Bildhauer, Musiker, Poeten, es ist, mit wenigen Ausnahmen, alles schwach, und in der Masse steht es nicht besser.«
»Doch«, sagte ich, »gebe ich die Hoffnung nicht auf, zum ‚Faust‘ eine passende Musik kommen zu sehen.«
»Es ist ganz unmöglich«, sagte Goethe, »das Abstoßende, Widerwärtige, Furchtbare, was sie stellenweise enthalten müßte, ist der Zeit zuwider. Die Musik müßte im Charakter des ‚Don Juan‘ sein; Mozart hätte den ‚Faust‘ komponieren müssen. Meyerbeer wäre vielleicht dazu fähig, allein der wird sich auf so etwas nicht einlassen; er ist zu sehr mit italienischen Opern verflochten.«
12. Februar 1829
»Es käme darauf an«, sagte ich, »daß ein tüchtiger Poet von der romantischen Schule das Stück durchweg als Oper behandelte, und Rossini sein großes Talent zu einer bedeutenden Komposition zusammennähme, um mit der ‚Helena‘ Wirkung zu tun. — —«
21. Februar 1831
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Aus früheren Programmen:
»— — mit einem Worte, ich verwünsche alles, was diesem Publikum irgend an mir gefällt. Ich weiß, daß es dem Tag und daß der Tag ihm angehört; aber ich will nun einmal nicht für den Tag leben .... Ja, wenn ich es nur je dahin noch bringen könnte, daß ich ein Werk verfaßte — aber ich bin zu alt dazu —, daß die Deutschen mich so ein funfzig oder hundert Jahre hintereinander recht gründlich verwünschten und aller Orten und Enden mir nichts als Übles nachsagten; das sollte mich außer Maßen ergötzen .... Sie mögen mich nicht! Das matte Wort! Ich mag sie auch nicht! Ich habe es ihnen nie recht zu Danke gemacht! …« Gespräch mit Falk, 21. (?) Juni 1816.
»— — Je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser.«
Gespräch mit Eckermann, 6. Mai 1827.
»Sie (‚Helena‘) ist eine funfzigjährige Konzeption. Einzelnes rührt aus den ersten Zeiten her, in denen ich an den ‚Faust‘ ging, andres entstand zu den verschiedensten Zeiten meines Lebens. Als ich daran ging, alles in einen Guß zu bringen, wußte ich lange nicht, was ich damit machen sollte. Endlich fiel mirs wie Schuppen von den Augen; ich wußte: nur so kann es sein und nicht anders!«
Gespräch mit C. Kraukling, 1. September 1828.
Ganz ohne Frage würd es mir unendlich Freude machen, meinen werten, durchaus dankbar anerkannten, weitverteilten Freunden auch bei Lebzeiten diese sehr ernsten Scherze zu widmen, mitzuteilen und ihre Erwiderung zu vernehmen. Der Tag aber ist wirklich so absurd und konfus, daß ich mich überzeuge, meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und, an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst verschüttet werden. Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt, und ich habe nichts angelegentlicher zu tun, als dasjenige, was an mir ist und geblieben ist, womöglich zu steigern und meine Eigentümlichkeiten zu kohobieren, wie Sie es, würdiger Freund, auf Ihrer Burg auch bewerkstelligen.
Brief an W. von Humboldt, 17. März 1832
(fünf Tage vor Goethes Tod).
Programmnotiz vom 7. November 1925
Zum Abschluß des Zyklus sei der Version widersprochen, die vielfach im Hörerraum die Wirkung begleitet haben soll: es müsse dies alles »aber auch vortrefflich einstudiert« sein. Nicht um ein Verdienst zu vergrößern, sondern um einen Unsinn zu verkleinern, sei wieder einmal gesagt, daß da überhaupt nichts einstudiert, nichts vorbereitet, nichts, außer den Strichen, auch nur genauer angesehen wird, ja daß selbst der Einklang mit der musikalischen Begleitung sich mehr dem Glück der Improvisation als der flüchtigen Probe verdankt. Studium wäre, selbst wenn auch dazu noch die Arbeit Zeit ließe, eine völlig unfruchtbare Leistung, von der die auf dem Podium, die hier entstehende, nichts behielte. Im Zimmer, ohne Auditorium, entsteht nichts. Dagegen ist es wohl richtig, daß jede Vorlesung eines Werkes die Probe zu der folgenden desselben Werkes ist. Dies war gegen eine völlig kunstfremde Meinung wieder einmal festzustellen, und wird wie alles schon Gesagte immer wieder gesagt werden müssen.
Diese vor zehn Jahren gedruckte Aufklärung ist auch heute erforderlich, und umso mehr, als das Publikum noch immer durch Auswendigsprecher über das Wesen der Podiumgestaltung irregeführt wird. Sie verträgt weder Auswendigsprechen noch auch nur die Vorübung im Ausdruck. Das Buch hat in der Hand zu sein, dann ist jede Gebärde möglich und jegliche Entfaltung der Gabe, nicht frei sprechen zu können. Die andere Fähigkeit hat nichts mit der Sprache, alles gegen sie zu schaffen. Was vorbereitet werden muß, ist — mit ein paar Proben — die Anpassung des Wortes an die komponierte Musik, dann die Gewöhnung des Ohrs, nicht an die Melodie selbst, die bei Offenbach auch ohne Kenntnis der Partitur eingeht, sondern an Tempi, Einsätze, Pausen usw.; was bei improvisierter Begleitung einzig festzusetzen ist, sind die Stichworte. Groß (nicht lang) ist im erstern Fall die sprachliche Arbeit (in dreifacher Bindung: des Verses, der Übersetzung und der Musik); die »sprechliche« wurde nie versucht. (Es gibt sogar Hörer, die gehört haben, und glauben, es sei da einmal ein »Unterricht« genossen worden, mit Atemübung, Abrichtung des Gaumens und der Zunge und sonstigen Versuchen an der Naturverlassenheit. Was es mit dem »r«, vorn oder hinten, für eine Bewandtnis hat, weiß einer nach 700 Abenden nicht; er weiß nur, daß bei solchen Strakosch-Witzen nichts herauskommt als die Mittelmäßigkeit, die schon da ist, für die es aber noch eigene Pflanzstätten gibt. Welche Debatte, ob die »Prüfungen« gut sind, da der Unterricht vom Übel ist! Mit der Ansicht, daß Menschendarstellung erlernbar sei, hängt zusammen, daß viele auch glauben, die Verteilung der Stimmcharaktere zwischen Mann und Frau, Greis und Kind geschehe auf dem Wege mechanischer Verwandlung. Aus der Stimme wird nichts, was nicht in ihr ist; was sie aber hat und vermag, einstudiert, nichts vorbereitet, nichts, außer den Strichen, auch nur genauer angesehen wird, ja daß selbst der Einklang mit der musikalischen Begleitung sich mehr dem Glück der Improvisation als der flüchtigen Probe verdankt. Studium wäre, selbst wenn auch dazu noch die Arbeit Zeit ließe, eine völlig unfruchtbare Leistung, von der die auf dem Podium, die hier entstehende, nichts behielte. Im Zimmer, ohne Auditorium, entsteht nichts. Dagegen ist es wohl richtig, daß jede Vorlesung eines Werkes die Probe zu der folgenden desselben Werkes ist. Dies war gegen eine völlig kunstfremde Meinung wieder einmal festzustellen, und wird wie alles schon Gesagte immer wieder gesagt werden müssen.
Diese vor zehn Jahren gedruckte Aufklärung ist auch heute erforderlich, und umso mehr, als das Publikum noch immer durch Auswendigsprecher über das Wesen der Podiumgestaltung irregeführt wird. Sie verträgt weder Auswendigsprechen noch auch nur die Vorübung im Ausdruck. Das Buch hat in der Hand zu sein, dann ist jede Gebärde möglich und jegliche Entfaltung der Gabe, nicht frei sprechen zu können. Die andere Fähigkeit hat nichts mit der Sprache, alles gegen sie zu schaffen. Was vorbereitet werden muß, ist — mit ein paar Proben — die Anpassung des Wortes an die komponierte Musik, dann die Gewöhnung des Ohrs, nicht an die Melodie selbst, die bei Offenbach auch ohne Kenntnis der Partitur eingeht, sondern an Tempi, Einsätze, Pausen usw.; was bei improvisierter Begleitung einzig festzusetzen ist, sind die Stichworte. Groß (nicht lang) ist im erstern Fall die sprachliche Arbeit (in dreifacher Bindung: des Verses, der Übersetzung und der Musik); die »sprechliche« wurde nie versucht. (Es gibt sogar Hörer, die gehört haben, und glauben, es sei da einmal ein »Unterricht« genossen worden, mit Atemübung, Abrichtung des Gaumens und der Zunge und sonstigen Versuchen an der Naturverlassenheit. Was es mit dem »r«, vorn oder hinten, für eine Bewandtnis hat, weiß einer nach 700 Abenden nicht; er weiß nur, daß bei solchen Strakosch-Witzen nichts herauskommt als die Mittelmäßigkeit, die schon da ist, für die es aber noch eigene Pflanzstätten gibt. Welche Debatte, ob die »Prüfungen« gut sind, da der Unterricht vom Übel ist! Mit der Ansicht, daß Menschendarstellung erlernbar sei, hängt zusammen, daß viele auch glauben, die Verteilung der Stimmcharaktere zwischen Mann und Frau, Greis und Kind geschehe auf dem Wege mechanischer Verwandlung. Aus der Stimme wird nichts, was nicht in ihr ist; was sie aber hat und vermag, wird weder durch den »Stimmbildner« gefördert noch durch einen Schnupfen behindert. Der landläufige Unterricht hat nichts mit der Möglichkeit zu schaffen, Begabungen aufzuschließen oder, was häufiger vorkommt, Unbegabungen von Fall zu Fall gebrauchsfertig zu machen.) Der Spieler oder Sänger der Rolle, der freilich memorieren muß, braucht das »Einstudieren«; darstellerische Vorbereitung für ein ganzes Ensemble mit Soli und Chören gibt es nicht. Offenbachs Enkel begleitet, ohne (gleich dem Vortragenden) Noten zu lesen, versteht kein deutsches Wort der Madame l’Archiduc, und doch kam sie, ohne die geringste Abrede, in privatem Kreis zu lebendigerer Wirkung als im Prager Theater, welches das Verdienst hat, die Zurückziehung der »Offenbach-Renaissance« bewirkt zu haben. Zum Sprechgesang bereitet weder der mitempfindende Musiker noch der Sprecher etwas vor. Nach Verabredung über die Stellen, die die Begleitung verlangen, vollzieht sich jenes Einverständnis zwischen Stimme und Instrument, das weder die Beteiligten noch die Hörer wissen läßt, wer führt und wer folgt. Der Vorleser hat sich selbst noch nie etwas vorgelesen, und da es zum Beispiel im Grimm’schen Märchen auch nichts einzurichten gibt — während bei Dramen szenische Bemerkungen gestrichen, gekürzt oder redigiert werden müssen, um das Podium als die Szene her- zurichten —, so hat er es, seitdem es ihm, es war einmal, gefiel, bis zum Vortrag auch nicht durchgelesen. Zweck und Sinn des Theaters der Dichtung ist die Erholung von den »eigenen Schriften«, dem erjagten Quentchen einer stets unerreichten und doch erlittenen Quantität, dem Werk, das er zwar leisten muß, das aber nicht würde, wenn jenes andere die Vorbereitung brauchte, die auch ihm in seiner äußern wie innern Fülle Abbruch täte. Der Schreibende ist immer unsicher; der Vortragende hat das Heft in der Hand, und da es ihm gelingt, es unsichtbar zu machen (wie ein Schnupftuch während Lears Fluch), so kann ihm, wiewohl und weil er ohne darstellerische Vorarbeit an die Arbeit geht, kein Wort den Ausdruck versagen; denn er spricht inwendig. Nicht Gedächtnis, sondern Geistesgegenwart ist das Element, aus dem auf dem Podium geschöpft wird.
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