[Karl Kraus las im Mittleren Konzerthaussaal am] 3. Februar:
Die Großherzogin von Gerolstein
[Die Fackel 909-911, 05.1935, 3] - zitiert nach Austrian Academy Corpus
Programmzettel
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THEATER DER DICHTUNG
Die Großherzogin von Gerolstein
Operettte in 3 Akten (4 Bildern) von Jacques Offenbach
Text von Meilhac und Halévy, nach Julius Hopp bearbeitet von Karl Kraus
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Nach dem 1. und nach dem 2. Bild eine Pause.
Mit neuen Strophen Bumbums und des Prinzen Paul
Begleitung: Franz Mittler
Hans von Bülow (aus New York, April 1890): In einigen Theatern habe ich fest geschlafen. Halt: eine Ausnahme — Mustervorstellung, wie nur selten erlebt, gesehn und gehört von Offenbachs »Großherzogin«, die ich mit höchstem Plaisir geschlürft. Früher war ich nicht reif dafür, so wenig wie für Mozart. Allerdings, das himmlische Frauenzimmer, welches Lilian Russel heißt — kommt gleich nach Agnes Sorma.
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19.45 Uhr: Aus der großen Zeit des Carltheaters
Also wohl die dieser unbeschreiblichen Herrlichkeit, als Matras, Knaack und Blasel neben Treumann (dem andern), der Grobecker und der Gallmeyer wirkten, welche Offenbach »meine Sänger« nannte, die großen Komiker, die ihm jede Singerei entbehrlich machten. Die Zeit, da »Pariser Leben« und »Die Prinzessin von Trapezunt« abwechselten und wenn er persönlich eine Premiere dirigierte, die Fiaker schon bei der Oper nicht vorwärtskamen. Oder die Jahrzehnte vorher mit Nestroy, Scholz und Grois in allen Werken des Possengenies? Bis zum Ausgang dieser Epoche, da, nebst Offenbachs Einaktern, »Orpheus« mit Nestroy als Jupiter und Knaack als Styx kreiert wurde. Also gewiß etwas aus der Zeit der Direktionen Nestroy, Treumann, Ascher. Oder vielleicht aus der kurzlebigen Lustspielzeit Mitterwurzers? Dem späteren Lokalpossentheater Blasels? Der Ära Jauners — um 1897 —, die vortreffliche Neuinszenierungen des »Blaubart« und der »Großherzogin« mit Spielmann, Bauer und der entzückenden Stojan brachte? Aber mit welchen Mitteln sollte die »Ravag« die Erinnerung an eine Bühne heraufbeschwören, die wahrlich wie nur das Burgtheater, das Theater an der Wien oder das Théâtre français eine »große Zeit« erlebt hat? Die des Burgtheaters erstreckte sich ihr, in Gemäßheit des christlich-germanisch-merkantilischen Schönheitsideals, von Millenkovich bis Röbbeling, wäre durch die Familien Reimers, Tressler, Zeska sowie Frau Bleibtreu vertreten, aber auch durch die gegenwärtigeren Herren Balser und Hennings — den Paul Hartmann wären wir los —, die bereits unverwüstlichen Thimig jun. und Maierhofer, und vor allem natürlich durch meinen magischen Namensvetter mit dem schärfern ß, der nach Aussage der jüngsten Ignoranten Devrient (den andern), Schröder, Anschütz, Löwe, Dawison, Sonnenthal, Baumeister, Lewinsky, Matkowsky, Mitterwurzer plus Beckmann und La Roche in die Tasche steckt, während ich ihn für einen saubern Redegliederer halte — nicht aufregend, gemessen an der Möglichkeit, daß Hartmann (der andere) diesenantipathischen »Kaiser von Amerika« gesprochen hätte — und für einen tüchtigen Chargenspieler, der manchmal die Verwandlungsfähigkeit des allzufrüh verstorbenen Müller-Hanno erreicht. (Am wenigsten erträglich dort, wo sich seine Persönlichkeit und sein Brustkasten mit der Rolle decken, etwa beim Hauptmannschen Geheimrat; trostlos als Falstaff.) Möchten die Leute, die noch immer ins Theater gehen, vor allem die, die es nichts kostet, doch endlich zur Kenntnis nehmen, daß es — von etlichen vorzüglichen Episodisten und Lustspieldamen abgesehen — seit 1890 keines mehr gibt und die Trümmer höchstens bis zur Jahrhundertwende vorhanden waren. Verlust des kulturellen Gedächtnisses mag vorkommen, aber dann sollte noch der Begriff »große Zeit« ausgelöscht sein, damit nicht auch hier Gold für Blech gegeben werde. Die große Zeit des Theaters an der Wien, das Offenbach-Werke mit der Geistinger, mit Swoboda, Rott, Friese besetzte und später Girardi erschuf; das neben dem theaterschwachen Johann Strauß Suppé und Millöcker hatte, wäre offenbar durch die »Lustige Witwe« repräsentiert. Und was versteht die Ravag unter der großen Zeit des Carltheaters?
Franz Lehar: a) »Zigeunerliebe«: Ouvertüre; b) »Der Rastelbinder«: 1. Wenn zwei sich lieben, Duett; 2. Ich bin a Weanakind, Lied — Edmund Eysler: »Die Schützenliesl«: Auftrittslied der Liesl — Heinrich Reinhardt: »Der liebe Schatz«: Dort an der Donau, Marschquartett — Oskar Straus: »Ein Walzertraum«: Walzer — Emmerich Kalman: »Die Bajadere«: a) Auftrittslied der Odette; b) Vermählungsszene — Franz Lehar: »Der Göttergatte« usw.
Und dann kamen gleich die Ratzen. — Wäre die Rundfunkkritik nicht hier wie überall prostituiert (weil die Tinterl, die Dirigentenleistungen oder bodenständige Lyrik loben, zuweilen auch den Äther durchstinken dürfen), so hätte sich vermöge dessen, was die Nichtswisser vom Hörensagen wissen, doch ein wenig Protest gegen den Hohn geregt, einer Stadt mit so ehrwürdiger Theatervergangenheit zwischen Gejodel und Heurigenmusik, dem
Wunsch, wieder einmal in Grinzing zu sein, und der sattsam bekannten Tatsache, daß mei Muatterl a Weanerin war, noch solchen Pietätsbeweis anzubieten.
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21.40 und 21.45
Da habe ich etwas Schönes angerichtet! Am 26. Januar, 21.40 Uhr, wurde unter dem gleichen Titel »Aus der großen Zeit des Carltheaters« meiner Mahnung, sich etwas weiter zurück zu erinnern, gefolgt. Da ich mich nur äußerst selten und notgedrungen in der Zeiten Kluft aufhalte (»ich wohne besser«), so erschrecke ich jedesmal und kann es gar nicht fassen, was heutzutage öffentlich werden kann: Erscheinungen, von denen ich geglaubt hätte, daß ihre Stimme kaum im Zimmer hörbar werden könnte, geschweige denn im Theater oder Äther. Immer ist mir das zuletzt Erlebte das Schlimmste, und doch, es ist es nicht, »solang’ man sagen kann: dies ist das Schlimmste«. Aber ich glaube wohl, abschließend — und obgleich ich seither noch Herrn Aslans Vortrag bodenständigster Lyrik gelauscht habe — sagen zu dürfen: »schlimmer kann’s nicht werden«. (Weiß die Ravag, daß dies ein Zitat aus »Lear« ist, von dem ihren Hörern einen Begriff des Theaters beizubringen — wie auch von Raimund, Nestroy und Offenbach — sie sich bis zum letzten Ende einer Kulturwirtschaft sträuben wird, die, in der Tat zwangsläufig, den Jodler für den Gipfel der Gottesschöpfung hält.) Aber höher geht’s nimmer, als um 21.40, wo unter dem Titel, der nun rehabilitiert werden sollte, wirklich von Nestroy und Offenbach die Rede war — ohne ein Wort der Aufklärung, wie sie die große Zeit des Carltheaters mit Lehar und Kalman teilen konnten. Nie zuvor habe ich Ähnliches gehört. Ein Herr von der Presse, Servitut der Ravag, plauderte lebfrisch — er muß vor dem Mikrophon lustwandelt sein —, in einer seltsamen Mischung der Tonfälle und Dialekte, die im Ganzen ein harbes Bukowinerisch ergab, von den alten Zeiten, die er per Zeiselwagen im Flug durchmaß, gemütlich und gemütvoll, intim mit den zuhörenden Einheimischen, so etwa: »na und die Gallmeyer!« (die er mit Raimund zusammen nannte). Brachte es wirklich über sich, Stimmen, die er nie gehört hatte, zu kopieren (Nestroy sprach so, daß ihn spielend eine Schnecke einholen konnte); erzählte, das Theater in der Leopoldstadt mit dem Carltheater verwechselnd, vom Kaiser Franz, der so oft drin war; rühmte die Zugkraft Offenbachs (mit »Madame Angot«!), der aber schließlich doch nicht das Richtige für Wien gewesen sei; unterbrach sich mit einem »Halt! habe ich schon von der Patti erzählt?« (natürlich wußte er, daß er es noch nicht getan hatte); meinte von der Gallmeyer, sie sei »zwar häßlich« gewesen, aber — »dö Glurn!«. Kurzum, es war eigenartig und prickelnd. Ich versuchte, unkundig der Einrichtung, öfter Zwischenrufe, ziehe meine Anregung mit Bedauern zurück und zitiere aus »Pariser Leben«: »So viel steht fest, ich wäre nie Führer geworden, wenn ich gewußt hätte, wohin das führt!« — Es gab Entschädigung. Wir haben zwar Erinnerungen an große Zeiten, aber mit telephonischem Anschluß an einen Wiener Apparat konnte ich am 31. Januar, 21.45, ein Pariser Theaterpublikum Offenbachs zauberhafte »Kreolin« (Josephine Baker) bejubeln hören.
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Bunt treibt es auch die »Wiener Zeitung«, die noch älter als das Carltheater ist, aber nie so ausgelassen war; wobei nicht angenommen werden kann, daß der verantwortliche Redakteur, ein ernster und kulturell bestrebter Autor, auch die geistige Verantwortung für den Text trägt. Nachdenker, die, erfreulicherweise ohne Angabe der Quelle, vom Unterschied zwischen Nachdichtung und Übersetzung plaudern, tauchen auf. Der Advokat des Blattes, der die Eigenart hat, sich auch für Shakespeare zu interessieren, besteht (standhafter, als man vermuten würde) auf seinem Schein, den »Kaufmann von Venedig« verdeutscht und dargestellt zu haben, und setzt die günstige Lesart durch, es sei vor überfülltem Saal geschehen, wodurch das Amtsblatt auf eine Polizeiwidrigkeit aufmerksam gemacht hätte, wenn nicht zum Glück ein Dutzend von sechzig gefehlt hätten, die der Saal faßt. Was dieser außerdem fassen konnte, des verwunderte sich manch einer. Doch ist die Wiener Zeitung in der Geberlaune und läßt auch Gyimes, den Freudenspender, in einem Interview zu Wort kommen. Einen guten Tag durfte sich ferner der Musikkritiker machen, obgleich es der Tag des Ringtheaterbrandes war. Er schreibt über die Operette, zitiert »erstaunt« Hanslicks zu- treffendes Urteil über die »Fledermaus«, die nichts weiter als ein Potpourri von Tanzmusik sei, und ergänzt:
Aber auch Egon Friedell, sicher ein ganz moderner Verfasser einer Kulturgeschichte, findet —
was er in der Fackel gefunden und ihr enthusiastisch bestätigt hat. Übrigens dürfte bei einem ganz modernen Verfasser einer Kulturgeschichte zwar fraglich sein, ob er etwas in dieser, aber sicher, daß er nichts auf der Bühne zu suchen hat und daß auf der Stelle, die er leiblich ausfüllt, mit geringerer Gage bessere Episodisten zu stehen hätten, die nichts zu essen und wahrscheinlich auch nichts zu trinken haben. (Wiewohl an Reinhardts Pimperltheater des »Kaisers von Amerika« wie der »Schönen Helena« wenig zu verderben war.) Ein Friedellforscher hat allerdings gefunden, daß seine Gespräche bedeutender als seine Schriften seien, worin er Peter Altenberg gleiche, »dessen Persönlichkeit« — wörtlich! — »heute vor allem in den Gesprächen lebt«, die jener aufgezeichnet habe (vermutlich in der dürftig erzählten Anekdote von der Mortadella di Bologna und dem schiefen Turm von Pisa). Wichtiger ist aber, was der Musikfachmann, der die ‚Fledermaus‘ »fast als das Ideal einer Operette anzusehen gelernt« hat, über eben deren Wesen auszu- sagen weiß. Über Offenbach, der dieses Wesen erschaffen und wie keiner erfüllt hat, weiß er natürlich den Bescheid, den die Marsop, Bekker und andere ahnungslose Engel und norddeutsche Oberlehrer geliefert haben; die Hauptsache ist »der Kölner Kantorssohn«, der, obwohl er angeblich Eberscht hieß — wie oft wird das noch aufgetischt werden! —, »in vollen Zügen den französischen Geist eingeatmet hat«. Ureigen scheint aber der Satz zu sein:
Seine bekanntesten Nachfolger und auch Nachahmer sind Lecocq und Planquette, deren Musik rein musikalisch wohl höher steht, aber weniger Bühnenwirkung hat.
Der Musikfachmann wird hiermit aufgefordert, ungeniert die Partituren von Offenbach wie die von Lecocq und Planquette, die er kennt, zu nennen. Oder er braucht bloß die Frage zu beantworten, ob er »Madame l’Archiduc«, ein Spätwerk Offenbachs, kennt. Den zierlichen »Madame Angot« und »Giroflé-Girofla« des von Offenbach entdeckten Lecocq gebührt gewiß alles mögliche Lob, und auch die liebenswürdige Langweiligkeit von »Rip-Rip« und »Glocken von Corneville« Planquettes, der mit Offenbach überhaupt nichts zu tun hat, muß vom Operettengreuel des neuen Jahrhunderts abgesondert werden. Der Musikfachmann möge beweisen, daß irgendeine Operettenproduktion der Welt (Hervé inbegriffen), ganz jenseits des ungeheuren Unterschieds der Bühnenwirkung, »rein musikalisch wohl höher steht« als das verschollenste der mehr als hundert Werke Offenbachs. Dieser hat eingeatmet, jener atmet auf:
Da, plötzlich ist Heinrich Reinhardts »Süßes Mädel« da.
Dann wird gejauchzt:
Franz Lehar hat mit der »Lustigen Witwe« dem 20. Jahrhundert seine Operette gegeben.
Das ist nur zu wahr; obschon die Meinung, er habe »Bizets und Mascagnis tragische Operettenform mit leichterer Eleganz und volkstümlicher Liebenswürdigkeit versehen«, etwas übertrieben scheint. Doch zum Schluß, mit Bezug auf die Ansicht, daß die Operette nicht sterbe:
Immerhin lehren die Namen Offenbach, Strauß, Lehar erfreulicherweise Optimismus.
Pessimismus ist gewiß nichts Erfreuliches, wird aber schon durch die Zusammenstellung der Namen gelehrt.
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