Vorlesungsprogramm Karl Kraus - Theater der Dichtung (Shakespeare-Zyklus)

Transkription: 

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THEATER DER DICHTUNG

(SHAKESPEARE-ZYKLUS)

Zum ersten Male

Der Widerspenstigen Zähmung

Lustspiel in fünf Aufzügen (und einem Vorspiel) von Shakespeare

Nach Wolf Graf v. Baudissin (Schlegel-Tieck'sche Ausgabe) bearbeitet und (für Zwischen- und Nachspiel) ergänzt von Karl Kraus.

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Begeleitung: Franz Mittler (mit Verwendung der Musik von Hermann Goetz)

Nach dem 3. Aufzug eine größere Pause

Die Ergänzung

Die Personen des Vorspiels, für die das Spiel aufgeführt wird, verschwinden schon nach dessen erster Szene, wo ihre Existenz noch angedeutet wurde. Da sie aber existent bleiben müssen, so ist zu vermuten, daß Shakespeare den Einfall, dem als Lord verkleideten Kesselflicker ein Theater vorzuführen, aus irgendeinem Grunde fallen gelassen hat. Die Version, daß sämtliche Zwischenspiele, die sich nach den Akten zu begeben hätten, und das vor allem unentbehrliche Nachspiel »verlorengegangen« seien, ist töricht; die Ergänzung, die schon gelegentlich versucht wurde, trostlos. Wenn man nicht auf die Rahmenhandlung überhaupt verzichten wollte — wie es mit Verlust des entzückenden Vorspiels die Bühnen fast immer getan haben —, so blieb nichts übrig, als mit den knappsten Zügen das Dasein des Kesselflickers auf dem Balkon entsprechender fortzusetzen. (Hauptmann hat den Einfall zu seinem »Schluck und Jau« verdickt, dem Durcheinander äußerlicher Shakespeare-Nachtönung und eines allzu originalen Schlesisch. Man vermißt bei jedem Satz das fehlende Lustspiel »Der Widerspenstigen Zähmung«.) Die nunmehr vorgenommene Ausführung besteht, nebst der Versetzung des (veränderten) kleinen Dialogs vom Schluß der ersten Szene an den Schluß des ersten Aktes, in einer kleinen Einfügung nach dem zweiten, in flüchtigen Apostrophen der Balkongestalten durch den Petruchio am Ausgang des dritten und des vierten Aktes, und einem kurzen Nachspiel der wieder selbst sprechenden Figuren: mit Entlordung und Entschädigung des armen Kesselflickers.

Der Alexandriner

Die Bearbeitung des Ganzen betrifft — nebst der wie immer notwendigen Verkürzung — den Versdialog, der vom Alexandriner, dieser Unsitte der Schlegelschule, durchgehends befreit wurde. Auch Baudissin hat diesen billigen Ausweg, die fünffüßigen Jamben in das durchaus anders geartete psychische Gebilde der sechsfüßigen zu verwandeln, nicht ver- schmäht. So hoch die Leistung der Schlegelschule über all dem Nichts stehen mag, das sich seither an Shakespeare herangewagt hat — dieser Grundfehler ist selbst dort nicht haltbar, wo das Original es mit dem Blankvers nicht genau nimmt oder diesen gar durch irgendeine knüttelvershafte Formung ersetzt. Die deutsche Versgestalt trägt keine Taille. Was aus ihr wird, wenn sie’s versucht, ist darstellbar. Das Übersetzungsproblem wäre auf allzu einfache Art gelöst, wenn wegen der vermeintlichen Notwendigkeit, alle Wörter, für die die englische Einsilbigkeit Raum hat, zu verdeutschen, jener Fuß dazukommen könnte, auf dem der Gedanke nicht mehr steht. Zwei Beispiele aus Hamlet:

My words fly up, my thoughts remain below:
Words without thoughts never to heaven go.

Schlegel fühlt sich verpflichtet, wenigstens dem Plural words gerecht zu werden; nähme er noch »My«, so ginge es selbst mit dem Alexandriner nicht. So aber geht es so:

Die Worte fliegen auf, | der Sinn hat keine Schwingen:
Wort’ ohne Sinn kann nicht zum Himmel dringen.

Der zweite Vers ist fünffüßig, freilich mit der sonderbaren Verquickung des angedeuteten Plurals »Wort’« und des Singulars »kann«. Warum nicht Wort, oben wie unten? Man beachte, welche psychische Veränderung die an die Alexandrinertaille anschließende Stelle bei Schlegel erfährt, wenn man damit die Fassung vergleicht, in die sie äußerlich unverändert übernommen wird:

Das Wort fliegt auf, der Sinn hat keine Schwingen:
Wort ohne Sinn kann nicht zum Himmel dringen.

Die Worte fliegen bei Schlegel auf, der Sinn hat keine Schwingen. Er sitzt fest wie eine Tournüre, ein Cul de Paris. Der völlig unshakespearesche Alexandriner, dem französischen Sprachgeist angepaßt, gewährt im Deutschen eben noch die gleichmütig logische Auseinanderlegung von Sachverhalten. Ähnlich verändert sich ein unveränderter Anfang:

It shall be so:
Madness in great ones must not unwatch’d go.

Es soll geschehn:
Wahnsinn bei Großen darf | nicht ohne Wache gehn.

Dieser wäre wohl bedrohlicher in:

Wahnsinn bei Großen darf so frei nicht gehn.

Noch krassere Beispiele bietet Schlegels »Romeo und Julia«, wo sich dem Bearbeiter die Beibehaltung des — konsequent durchgeführten — Alexandriners höchstens in den Meditationen des Bruders Lorenzo empfehlen könnte. Wenn aber, in der Rede Capulets, der Mai »hold« und der Winter »lahm« sein muß, weil diese Schmuckwörter im englischen Vers Platz haben, so enthält der deutsche Alexandriner, der solchem Bedürfnis entspricht, weniger davon als der deutsche Blankvers, der darauf verzichtet.

Man vergleiche:

Wie muntre Jünglinge | mit neuem Mut sich freuen,
Wenn auf die Fersen nun | der Fuß des holden Maien
Dem lahmen Winter tritt: | die Lust steht euch bevor …

Im englischen Blankvers ist es mehr hold, im deutschen Alexandriner mehr lahm. Vielleicht wird die Folge der Jahreszeiten wieder anschaulich, wenn — auch noch mit dem Verzicht auf das Muntere — es so geht:

Wie Jünglinge mit neuem Mut sich freuen,
Wenn auf die Fersen nun der Fuß des Maien
Dem Winter tritt: die Lust steht euch bevor …

Ist es nicht Shakespearescher? Und Schlegelscher? Es ist eben nicht alles in die gegebene und unumgängliche Form »übersetzbar«, manches kann getrost verloren gehen, und einem Wesentlichen zuliebe, das in einen deutschen Blankvers nicht zu bringen ist, wäre selbst dessen Verdopplung dem Ersatz durch den Alexandriner vorzuziehen. Freilich ist der Einlaß des Alexandriners nicht immer ein bewußter Mißgriff im Dichterischen. Er kann auch — wenn er nur spärlich vorkommt — eine bloße akustische Täuschung sein, gefördert durch eine optische. Bodenstedt passiert am Schluß eines Sonetts das Folgende:

Denn ich beschwor, daß Schönheit deine Züge
Verkläre. Gott verzeihe mir die schnöde Lüge!

Das zweite ist ein Alexandriner, der den Blick durch die gleiche Länge belügt. Diese erklärt sich aus den schmächtigen Silbenkörpern (Denn, schwor und Schön sind eben graphisch korpulenter als Ver, re und he). Nun steht wohl im Englischen etwas, das zu »schnöde« berechtigt. Aber ist die Lüge nicht schnöder, das Gedicht nicht größer, wenn der Vers lautet:

Verkläre. Gott verzeihe mir die Lüge!

Wie viele Deutsche haben bisher solche Probleme des deutschen Verses gekannt?

P. S. Der Bearbeiter wird darauf hingewiesen, daß vor allem Schlegel selbst des Problems inne wurde, indem — wie tatsächlich aus Michael Bernays’ Aufzeichnungen »Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare« (1872) hervorgeht — die überlieferte, von Alexandrinern durchsetzte Fassung schon das Resultat eines Kampfes mit der ursprünglich noch üppiger entfalteten, später als Übel erkannten Versform bedeutet. Besonders bemerkenswert erscheint, daß Schlegel 1840 — in einer Art Genehmigung der von Tieck »unbefugter Weise« vorgenommenen Verkürzung in Fünffüßler — die Möglichkeit der ihm längst antipathischen Form für den Monolog des Lorenzo einräumt: mit dem völlig richtigen Gefühl für die Besonderheit des Tonfalls, wenngleich mit dem unrichtigen Hinweis auf den Gehalt an »Sentenzen«, welche ja schließlich den ganzen Shakespeare bezeichnen. Dazu muß noch gesagt werden, daß Max Koch in seiner, dem Bearbeiter bisher unbekannt gewesenen, Revision Schlegels die völlige Befreiung vom Alexandriner, die Schlegel selbst angestrebt hatte und zu der er nicht mehr gelangt ist, durchgeführt hat. Diese Stellvertretung erweist sich allerdings gerade in »Romeo und Julia« als unzulänglich:

Wie muntere Jünglinge aufs neu sich freuen,
Wenn auf die Fers’ der Fuß des holden Maien
Tritt lahmem Winter, so steht euch bevor
Die Lust ....

Also noch lahmer, ja mit voller Anschauung der dem Winter abgetretenen Ferse. Solchem Fers’-Fuß wäre selbst der eine, der den Blankvers zum Alexandriner macht, vorzuziehen. Dagegen ist festzustellen, daß Kochs Verkürzung jener Hamlet-Stellen — die sich eben als der einzige, unumgängliche Ausweg ergibt — genau so wie oben vollzogen wurde. Leider mit der Entleerung des Wortes ohne Sinn, das jetzt »nie« zum Himmel dringen kann. Der Nichtdichter glaubt eben, daß »nie« hier mehr als »nicht« sei und daß die verzweifelte Erkenntnis des Nichtbetenkönnenden stärker als Lehrsatz zur Geltung komme.

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Am 1. März erscheint: Shakespeares Sonette, Nachdichtung von Karl Kraus

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Shakespeares Sonette liegen deutschen Lesern in zahllosen Versuchen einer philologischen Verdeutschung vor, die, mit der notdürftigen, durch die Verschiedenheit der Sprachnaturen beein- trächtigten Übernahme des Wortbestands, kaum immer dem äußern Sinn, niemals dem gedanklichen Inhalt und dichterischen Wert nahekam. Fast ebenso häufig sind die Versuche von Nachdichtern, die mit Verzicht auf eine Worttreue, deren Erstrebung allein schon eine Gewähr dichterischer Unzulänglichkeit bedeutet, aber mit deren vollem Einsatz aus eigenen schöpferischen Mitteln, eine Herabsetzung Shakespeareschen Fühlens und Denkens auf das
Niveau der Mittelmäßigkeit erreicht haben. Einen Sonderfall aus doppeltem Antrieb bildet das Experiment Stefan Georges: durch eine Vergewaltigung zweier Sprachen, der des Originals und derjenigen, die die Übersetzung erraten läßt, eine Einheit des dichterischen wie des philologischen Mißlingens zu erzielen.

Die nunmehr entstandene Nachdichtung der 154 Sonette erscheint mit dem Anspruch auf das Urteil, daß eine — in ihrer Großartigkeit wie in ihren Schwächen — bisher unerschlossene Partie der Shakespeareschen Schöpfung der deutschen Sprache und der deutschen Dichtung gewonnen ist.

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Signatur: 
H.I.N.-240435