617. Vorlesung am 09.05.1932

Prag
09.05.1932

[Karl Kraus las im Mozarteum], ½8 Uhr, 9. Mai

Madame l’Archiduc.

Als Protest gegen die dortige Aufführung. Der Text des Programms folgt im nächsten Heft.

[Die Fackel 876-884, 10.1932, 93] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

THEATER DER DICHTUNG

Madame l’Archiduc

Operette in drei Akten. Musik von Jacques Offenbach

Text (nach Albert Millaud) von Karl Kraus

Begleitung: Franz Mittler

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Mit neuen Zeitstrophen

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Karl Kraus weilte am Sonntag in Prag und war bei der Aufführung von Offenbachs »Madame l’Archiduc« im Neuen deutschen Theater anwesend.

Wie so ziemlich alles, was über den Genannten in der Presse erscheint, ist selbst diese leider wahre Behauptung falsch. In dem Sinne nämlich, daß die unvollständige Mitteilung einer Tatsache so weit von der Wahrheit abweichen kann wie eine Lüge. Da der Genannte nicht zu jenen Figuren gehört, die irgendwo weilen, anwesend sind und bemerkt werden, so war es unstatthaft, von seinem Erscheinen zu so traurigem Anlaß Notiz zu nehmen, wenn man über den Beweggrund des Erscheinens, über Tendenz und Gefühle dieser Anwesenheit, nicht orientiert war oder nicht orientiert sein wollte. Als Theaterneuigkeit — neben der zweifellos vollständigen Tatsache, daß ein Solotänzer engagiert wurde — schien die Meldung zu besagen, daß der Autor des deutschen Textes der »Madame l’Archiduc« mit durchaus positiven Gefühlen der Vorstellung beigewohnt habe, getreu dem Versprechen der Wiederkehr, das er vor der Erstaufführung gegeben hatte, die Anerkennung bestätigend, die er nach dem Probeneindruck, dem zwei Hauptdarsteller durch Krankheit entzogen waren, vorbehaltlos gespendet haben soll. Rücksicht auf teilweise redlich bemühte darstellerische Arbeit, restloses Verständnis für die Hingabe von Nervenkräften hindern bis zur Premiere die Einmischung der Wahrheit in die Diplomatie der Theaterreklame, können sie aber ebensowenig verhindern wie das Urteil in künstlerischen Dingen, welches den der eigenen Autorschaft zugefügten Schaden keineswegs behutsamer anrührt als den wo immer bewirkten, und insbesondere der Offenbachschändung im nahen Wirkungskreis nicht befangener gegen- übersteht als den Taten, die die Herren Reinhardt, Karlheinz Martin und andere prominente Offenbachschänder vollbracht haben. Ganz im Gegenteil wird gegen die grundsätzliche Schändung, die noch sozusagen einem Zeitgedanken entspricht, eine geringere Strenge der Kompetenz am Platze sein als hier, wo mit deren eigener Hilfe und Mühe ein halbwegs stilreiner Rahmen hergestellt ist, in dem sich dann unter Mißachtung der empfangenen Lehren allerlei zeitgemäßer Unfug breit machen darf, dessen penetrante Wirkung den umgebenden Wert verdumpft. Denn dort hat der Schützer Offenbachs alles zu beklagen, aber nichts zu verantworten; hier erwächst ihm die Verantwortung für vieles, was er zu beklagen hat. Jene Meldung macht ihn zum stummen Zeugen von Dingen, die, hätte ihn seine Phantasie zu ihrer Vorstellung befähigt, nie das Licht der Szene erblickt hätten, weil vorher nie die heillose Verbindung mit einem Theatervertrieb zustandegekommen wäre, die sie ermöglicht hat. Wäre dem Prager Theater der Wunsch, daß der Textautor der Premiere beiwohne, in Erfüllung gegangen, so hätte es — mit allem Dank für die aufgewandte Mühe — schon zu den Worten des Wirts: »Ihr singt, ich bin es zufrieden« coram publico den Zuruf empfangen: »Ich nicht!«

Der Wahrheit weit näher als jene lückenhafte Notiz des ‚Prager Tagblatt‘ kommt die des ‚Sozialdemokrat‘:

(Karl Kraus und die Prager Aufführung der »Madame l’Archiduc«.) Karl Kraus wird Anfang Mai — voraussichtlich am 9. — in Prag »Madame l’Archiduc« zum Vortrag bringen. Die Vorlesung soll ein Akt der Sühne an Offenbach, eine Strafexekution für das Theater sein, das entgegen allen feierlichen Versprechen und wiederholten Beteuerungen die Verunstaltung des Textes der »Madame l’Archiduc« vor allem durch den Darsteller des Giletti, Herrn Dörner, geduldet und dem Autor gegenüber durch Ableugnung des wahren Sachverhalts gedeckt hat. Karl Kraus hat der Aufführung von »Madame l’Archiduc« am Sonntag beigewohnt und ist über den Grad der Verschlampung des Stils und der Verwüstung des Textes durch Herrn Dörner ebenso entsetzt wie er über die Schädigung des besseren und stilgerechten Teiles der Aufführung durch das stilwidrige Verhalten des einen Darstellers empört ist. Die Direktion des Theaters hat anscheinend gegen die offensichtliche und an dieser Stelle schon in der Besprechung der Premiere festgestellte Vergewaltigung des Offenbach-Stils, wie ihn der Dichter des deutschen Textes versteht und gewahrt wissen will, durch den Darsteller des Giletti, gegen die Verpestung reiner Operettenluft durch die Miasmen der zeitgenössischen Produktion, nicht das geringste unternommen, wohl aber Herrn Kraus versichert, es sei alles zur Reinhaltung des Textes geschehen. Herr Karl Kraus lehnt jede Verantwortung für eine Aufführung ab, in der die Extempores Dörners möglich sind, er lehnt es ab, den von Dörner gesprochenen Text als den seinen anzuerkennen. Die durch nichts zu erklärende oder zu entschuldigende Haltung der verantwortlichen Theaterleitung hat Gegenmaßnahmen heraufbeschworen, die umsomehr zu bedauern sind, als ein Teil der Künstler, voran Frau Lord, Frl. Reichlin, Herr Padlesak und die Darsteller der Verschworenen, sich in vorbildlicher, auch von Karl Kraus rückhaltlos anerkannter Weise um das Werk bemühten. Im Interesse dieser Künstler vor allem wäre es auch zu wünschen, daß die Theaterleitung noch jetzt, da sie freilich mindestens moralisch bereits sachfällig geworden ist, eine Reinigung der Aufführung anstrebte.

E. F.

So vollständig dieser Motivenbericht zur Tatsache einer Anwesenheit ist, so muß doch die Theaterdirektion gegen den Vorwurf, wiederholte Versprechungen nicht gehalten und Sachverhalte abgeleugnet zu haben, insofern in Schutz genommen werden, als er zwar berechtigt, aber für die Schriftstücke, die Herr Volkner unterfertigt hat, dieser nicht verantwortlich zu machen ist. Eher könnte man den Eindruck gewinnen, daß sich in dem geistigen, moralischen und szenischen Bühnenbild der Prager Madame l’Archiduc bereits die Konturen der Nachfolge andeuten. Das Problem von Schuld und Verantwortung wäre jedoch überhaupt nicht gegenüber dem selbsttätigen Apparat der Theaterbürokratie aufzuwerfen, die von der staatlichen die Schlamperei wie die Mischung aus Dünkel und Devotion übernommen hat und aus eigenem den Versuch der Dummacherei am untauglichsten Objekt beisteuert. Herr Volkner hat sicherlich die beste Absicht gehabt, und was die Fähigkeiten anlangt, so dürfte das Prager Deutschtum bald die Erfahrung machen, daß sich die seit Angelo Neumann bewährte Erkenntnis, es komme selten etwas Besseres nach, bis zur Neige bestätigen und der Unterschied zwischen Volkner und Eger sich in der Wahrnehmung manifestieren wird: Jener ist ein Schlaraffe, dieser aber imstande, einer zu werden. Ferner darf auf dem Darsteller des Giletti der Vorwurf nicht sitzen bleiben, daß er sich willkürliche Verunstaltungen und Verwüstungen des Textes habe zuschulden kommen lassen. Der Autor, welcher zu deren Feststellung — für einen ganz bestimmten Zweck — nach Prag gekommen war, hat sich damit bis über die Ohren blamiert, selbst bis über die des Eselsporträts, mit dem der Darsteller des Giletti das ABC-Sextett in der Premiere verziert haben soll. Autorrechtlicher Eifer hatte ihn angetrieben, sich eine Reihe von Stellen zu notieren, die der launige Buffo umgearbeitet hatte, und er mußte nachträglich feststellen, daß einige davon wörtlich im Buche standen. Er hatte sie bloß nicht wiedererkannt. Das Problem liegt ganz wo anders als in der Verletzung des Text- bestandes, und es ist eines der stärksten Bühnenerlebnisse, das der erfahrene Autor dem Darsteller des Giletti verdankt. Gewiß, dieser hat manches redigiert und eine Wendung wie »Und wenn Sie zerspringen!« kommt natürlich im Buche nicht vor, da sie ja allein imstande ist, die ganze Offenbach-Welt für Generationen zu verdörnen und insbesondere die Märchenlandschaft, die um Parma 1820 gebreitet ist, durch Angleichung an Wien 1932, etwa an den Begriff Leopoldi, ungangbar zu machen. Aber was verschlägt das? Die einzige lebendige Wirkung, vielleicht der ganze, sonst unbegreifliche Erfolg der »Madame l’Archiduc« in Prag ist — das muß klipp und klar gesagt werden — eben diesen Zutaten des Giletti zu danken, ja, selbst dem von ihm wortgetreu gebrachten, doch auf seine Art belebten Text. Die erste Heiterkeitswelle des in musealer Beschaulichkeit dahinziehenden Abends erhebt sich, wenn sein Wort, seine Bewegung den Anstoß gibt, wenn ein Zeitton, den der Hörer identifizieren kann, wie eben jenes Zerspringen oder eine Wortverrenkung oder auch nur eine Geste, ein komisch aufgestülpter Zylinderhut, von Tönen, die sonst an Mozart erinnern könnten, ablenkt. Er kann nichts dafür, er muß; es ist eine vis comica major. Die gerade Linie ausströmenden Liebesgefühls, vom gesanglichen Auftreten dieses Giletti an, weicht der neuwienerischen Verzerrung, mit der sich das eintänzerische Element, das jetzt Anklang findet, umso rabiater für den Mangel an Jazz entschädigt. Und das eben macht jenes erschütternde Erlebnis der Prager Aufführung, das — zugleich mit Vorfällen in Essen — dem Gedanken der »Offenbach-Renaissance«, soweit er auf Bühnen übergreifen könnte, ein radikales Ende bereitet hat. Es ist die Erfahrung, daß eine Wortregie, und wenn sie Zaubermelodien wie das Adieu der Marietta und das »Sie wollen fragen« des Fortunato selbst bis zur Vollkommenheit herauszuarbeiten vermöchte, nicht die ungleich stärkere Wirkung verhindern würde, die gleichzeitig der stumme Darsteller des Giletti erzielt, wenn er eine bedauernde Geste dazusetzt oder Fortunatos Worte »Da wär’ ich kürzer angebunden« mit einem Griff nach der eigenen Hüftengegend begleitet. Ein Sendbote der Kalman-Welt, ausgesandt, den Einbruch des ursprünglichen Operettengedankens in das Gehege der Barmusik zu kompromittieren, erzwingt sich ein solcher Darsteller die zeitgemäße Wirkung, auch wo er texttreu zu Werke geht, ja wo er überhaupt nicht das Wort hat; und er macht dem Textautor die Ankündigung der »Madame l’Archiduc« als der »besten Nachkriegsoperette« erst verständlich. Welche Mühe es gekostet hat, die Greuel, die diesem nur vom Hörensagen bekannt wurden, einzudämmen, bliebe auch noch unglaubhaft, wenn es dargestellt würde. Aber wer würde denn glauben, daß Wort und Ton gegen eine Bewegungsregie zur Geltung kommen könnten, die es auf Schlenkerbeine absieht, welche sich heute überall dort von selbst verstehen, wo eine Mehrzahl von Mädchen auf den Plan tritt; die darum auch die nächstliegende Chance ergriff, die »kleinen Soldaten« als Girls zu bewegen, welche aus Schilderhäuschen hervorzuhüpfen haben; und der man mit Müh und Not den Einfall abgewöhnen konnte, sie vor Beginn der Vorstellung an der Rampe defilieren zu lassen. Nun, wenn man es erleben mußte, seine Frage: »Ja warum lassen Sie sie dann nicht schon gleich durchs Publikum auftreten?« von einem Gourmet der Prager Kritik in das Bedauern übernommen zu sehen:

Schade, daß der Spielleiter .... die militärischen Aufmärsche nicht gelegentlich auch durchs Publikum auf die Bühne dirigiert hat

dann möchte man doch lieber dem »Theater der Dichtung« vertrauen, dem für Parkett und Podium solche Überraschung gewiß nicht widerfahren könnte. Und vor allem nicht die »herrlich verspielten Dekorationen«, oder der »possierliche, phantasievolle Schilderhaus-Treibhausstil«, als der einem andern Feinschmecker der schaudervollste Unfug erschien, mit dem jemals ein neudeutsches Tapezierergehirn die Märchenluft eines nächtlichen Parkidylls verödet hat. Und was vermöchte denn alles Bemühen einer Wortregie, wenn im Park plötzlich eine Kaserne steht, wenn aus Parma 1820 eine Kreuzung aus Tunis und Tempelhof wird, mit Herzchen, die, als Kasernhofblüten, aus Riesenkakteen herauswachsen, worüber eine Sonnenblume lacht.

Aber was hilft’s, die Verwüstungen zu beklagen, die die denkbar offenbachwidrigste Theaterzeit — aus Elementen eines neuen Wien und eines immer neuen Berlin, mit Prag in der Mitte — an einem Kunstwert angerichtet hat, den man im Vertrauen auf Verträge und Versprechungen ihr vorzuenthalten nicht die Geistesgegenwart hatte. Es bleibt — bis zu einer Darstellung der Leidensgeschichte dieses »närrischen Märchens« einer Offenbach-Renaissance — nichts übrig, als es nie wieder zu tun und, mit einem Publikum, das ohnehin nichts verliert, die Hörerschaft, die noch hören kann, um den Wiedergewinn einer Zauberwelt zu bringen, solange sie darauf angewiesen bleibt, sie sich von einer Organisation aus Dilettantismus und Überhebung zuschneiden zu lassen. Der unmittelbare Angriff auf das autorrechtliche Gut war nur die Handhabe, um die Bindung an jenen Vertrieb loszuwerden und damit die größere Gefahr der stilistischen Verhunzung abzuwehren. Und was doch auch übrig bleibt, ist die Rehabilitierung im eigensten Wirkungskreis, die noch jedem Theater, mit dem man um den Wert ringen mußte, im vorhinein angekündigt war.

Die Selbstverständlichkeit, mit der das Kommerz- und Kommiswesen der heutigen Bühne die beiden großen Theaterwelten: Shakespeare und Offenbach auf seinen Horizont reduziert; die Überlegenheit der Subalternität, die hier jeder Einrede eines Theaterinstinkts spottet, den ehedem ein Sitzanweiser in höherem Grade besaß als heute der »Regisseur«; die Zielsicherheit, die, pochend auf einen geistigen Fundus aus Gebrauchspsychologie, dürftiger Ratio und expressionistischen Resteln, dem »Geschmack«, nämlich dem einer Konfektionskundschaft, kein Opfer elementaren Wertes vorenthält — das alles noch physisch mitzumachen, ist dermaßen entwürdigend, daß einem die Entfernung aus solcher Sphäre als wahre Errungenschaft vorkommt. Der Einfall, sich mit Persönlichkeiten, die ehedem im Zuschauerraum Lampenfieber gehabt hätten, auf dem Podium zu treffen und um den Verzicht auf Anordnungen zu feilschen, die einem das kaputt machen, worauf alle Arbeit und aller Schutz gewendet war, könnte künftig dem Traum oder der Operette zugehören. Bei Tageslicht und vor der Theaterkritik kann derlei bestehen, da findet das fachmännisch drapierte Unwesen Beglaubigung, vor dem einem Laien, der bloß in das Wesentliche eingeweiht ist, nur die Flucht an den Schreibtisch bleibt oder auf ein Podium, auf dem es kein »Inszenierungsproblem« gibt. Daß ein solches für die »Madame l’Archiduc« — welche der Textautor mit den Kellnern und Kellnerinnen, die in ihr vorkommen, stilrein herausbringen könnte, wenn ihm kein Regisseur und kein Dekorateur dazwischenkommt — daß es da also ein »Inszenierungsproblem« gibt, konnte er gleichfalls aus dem ‚Prager Tagblatt‘ erfahren, wo sich ein Kenner Gedanken, die er nicht hatte, gemacht hat. Da es sich um einen geradezu vorbildlichen Fall von Transformation privater Unzulänglichkeit in öffentliche Meinung handelt, so muß er der Nachwelt überliefert werden.

Wer bei der faszinierenden Vorlesung der Operette durch Karl Kraus im Vorjahre zugegen war, wird sich vielleicht auch Gedanken über das Problem einer bühnenmäßigen Inszenierung gemacht haben.

Warum denn? Saal in einer Herberge, Saal in einem Schloß, Garten. Auf diesen einfachen, hundertmal dagewesenen Schauplätzen hat mit Hilfe dessen, der den Stil kennt, in der Art gesprochen zu werden, wie es vor sechzig Jahren Theaterleute von selbst getroffen haben. (Berliner Regisseure machen da ihren Gestank und nennen es Atmosphäre.)

Milieugemäß, historisch — oder gegenwartsgemäß-phantastisches Niemandsland?

Weder, noch; sondern operettengemäßes Niemandsland, welches eher milieugemäß als gegenwartsgemäß ist. Aber wenn man eine Alternative stellt, sollte sie kein Durcheinander sein, weil dann die Entscheidung noch schwerer ist. Das »Historische« (1820) — oder meint er das der Offenbach-Zeit? — und das Milieu- gemäße (Parma) bilden eben das Niemandsland der Operette, die zwar phantastisch, aber niemals gegenwartsgemäß ist, die ihre unabänderlichen Normen und Formen hat, an welchen der Banalverstand nicht rütteln kann, und deren Stil, in französischen und altwiener Elementen beruhend, immer gültig und überall verständlich dem Ohr bleibt, das vom Schmalz des neuen Singspiels noch frei zu machen ist.

Beides hat gleich viel für sich. Der Textautor tritt für Beibehaltung der szenischen und darstellerischen Grundhaltung der Entstehungsjahre des Werkes (um 1870) ein. Die Prager Inszenierung ist daher eine historische — und in dieser Richtung eine durchaus geglückte, amüsante. Ein entzückendes Märchen.

Also Niemandsland? Leider nicht. Sondern selbst nach Abräumung des Äußersten — und mit Ausnahme des zweiten Aktes (dessen alberne Kronenwitze noch stören) — deutsche Provinz um 1910. Aber der Textautor tritt nicht für Beibehaltung der Grundhaltung von 1874 — »der Entstehungsjahre« — ein, sondern für den Stil Offenbachs und der Operette, der damals getroffen wurde.

Für eine antihistorisch kostümierte, milieulose Wiedergabe spräche hingegen die folgende Erwägung.

Jetzt, wo erwogen wird, wird es sehr schwer werden, Kraut und Rüben auseinanderzuhalten. Es ist zwar gar nichts zu erwägen, wo nur Talent zu haben ist; aber, es sei, erwägen wir:

Einen wesentlichen Teil ihres Nährwertes bezog die Millaud-Offenbachsche Operette aus der allgemeinen Spottlust an den Souveränen, an den Hof- und Adelskreisen der damaligen Zeit. Dieses Milieu gibt es heute nicht. Mehr als das: es ist — als Milieu — bedeutungslos, uninteressant geworden. Den mächtigen Mann, der aus Originalitätssucht und Verliebtheit die hübsche Kellnerin zur Herrscherin über seinen Reichtum, seine Untergebenen macht, gibt es nach wie vor. Und er ist auch interessant geblieben. Doch ist dies zumeist kein regierender Großherzog, und wenn, so einer in Zivil. Auch Verschwörer gibt es heute eher mehr denn weniger als zu Offenbachs Zeiten: aber sie sehen anders aus und schreiten anders einher. Mit einem Wort: die Fabel, die Charaktere, sind durchaus aktuell. Wozu also durch ihr höfisches Kostüm die Vermutung aufkommen lassen, daß sie es nicht mehr sind.

Das ist doch schlagend? Treten wir (wie der Erzherzog) in seine Phantasie ein, ohne anzuklopfen. Begeben wir uns auf die Ebene eines Denkens, das, allem Märchen und aller Operette entrückt, nur den Stoff und die Tendenz ergreift. Geben wir also zu, daß Offenbach, wie so oft, auch hier auf den napoleonischen Hof gezielt hat, ja daß diese satirische Tendenz den ganzen Wert der »Madame l’Archiduc« bedeutet. Aber hat er nicht die Verkleidung der Zeitgenossen in Gestalten von 1820 vorgenommen? So würden wir wohl mit dem, was so »durchaus aktuell« ist, noch besser Operette treiben, wenn wir uns das Heutige, das es ja »gibt«, im alten Kostüm vorstellten, denn es bevölkerte ein noch zeitentrückteres Niemandsland! Ist denn Operette die Abschilderung und nicht vielmehr die Projizierung des zeitlichen Wirrsals? Glaubt einer wirklich, daß »in Zivil« gesungen werden könnte? Und »schreiten« denn die Verschwörer in »Madame l’Archiduc« wie die »zu Offenbachs Zeiten« einher? Nein, er ließ sie fünfzig Jahre zurückschreiten, um die zeitgenössischen zu treffen. Aber der Kopf, in dem zu allen Termini, die der Begriff »Zeittheater« entfesselt hat, zu »historisch«, »gegenwartsgemäß« und zu »Niemandsland« (das wieder hier nichts zu suchen hat) die entsprechenden Vorstellungen durcheinandergehen, ist ja längst über das »Inszenierungsproblem« hinaus und hat ein Autorproblem angeregt: einfach die »Madame l’Archiduc« neu zu schreiben. Mit einem versteckten Rat an den, dem die Schlagzeile gilt

Offenbach-Erneuerung durch Karl Kraus

ihn nun erst zu erneuern, und dem einer, der lange nach der »Lustigen Witwe« zur Welt kam, erzählen wird, wie man das macht! Oder er hat, terminologisch hingerissen, bloß übersehen, daß, wenn ein Generaldirektor statt des Erzherzogs aufträte — um also nicht »die Vermutung aufkommen zu lassen«, es wäre nicht »aktuell« —, daß dann kein Vers mehr, kein Dialogsatz stehen bleiben könnte, da jeder doch das »Milieu« enthält. In einem Buch, das der Beurteiler eben noch den »sprachlich vollendetsten, witzigsten, musikalischesten Operettentext, den wir besitzen«, eine »geniale textliche Erneuerung« genannt hat! Es ist nicht leicht, auf eine Gedankenflucht einen Steckbrief nachzusenden, besonders wenn einer mit Druckerschwärze inszeniert, mit der sich ja vor gebildeten Kaffern jegliche Illusion ohne jegliche Verantwortung erzielen läßt. Warum denn nicht? der Textautor wird doch für das Lob, das ihm gespendet wurde, so viel Einsehen haben, daß es sich lediglich um eine kleine Meinungsverschiedenheit wegen des Kostüms handelt.

Umsomehr, als Offenbachs Musik auch die modernste Inszenierung nicht Lügen strafen würde. Sie ist an keine bestimmte Epoche gebunden; sie ist ebenso nationaltheater- wie piskatorfähig.

Dagegen ist nicht aufzukommen. Der den Text geschrieben hat und die Musik vorträgt — aber kein Gehör für einen Lobgesang hat, dessen Text sein Gehirn beleidigt —, wagt nur noch den schüchternen Einwand: daß Offenbach jede »Inszenierung«, die nicht die seines Werkes ist, »Lügen strafen würde«. Daß seine Musik zwar an keine bestimmte Epoche, auf die sie wirken soll, gebunden ist, aber in ihrer Wirkung jeweils an das Milieu ihrer Handlung, wie noch nie die Musik eines Musikdramatikers gebunden war; daß sie durch eine Auswechslung des Milieus, ja durch die geringste Veränderung des ihr gemäßen Textes aufhört, von Offenbach zu sein. Und daß sie weder nationaltheater- noch piskatorfähig ist (das fehlte noch!), sondern ausschließlich operettentheaterfähig. Also heute nicht aufführbar. Wie könnte es denn auch der Fall sein in einem Theaterwesen, über das solche kritische Kompetenz des Amtes waltet (deren Eifer in der Anerkennung von etwas, was sie nicht erkennt, nun schon das dritte Mal auf Offenbach losgelassen wird). Es ist ganz stilgemäß dieselbe, die von der Phantastik der Schilderhäuschen (vis-à-vis dem Häusl der Gräfin) entzückt war, die einzig mögliche Dekoration des zweiten Aktes »abscheulich« fand, und die dem Darsteller des Giletti »Gebärden von entwaffnender Lustigkeit« nachgerühmt hat. Eben den Gebärden, deren Lustigkeit den Textautor in Harnisch brachte. Spaß und Beifall entsprechen aber ganz und gar der gegenwartsgemäß-phantastischen Offensive, die gegen alles, was des Märchens ist, eingesetzt hat. Es war einmal; es wird niemals wieder sein. Der Textautor und Gesamtdarsteller des Theaters der Dichtung löst das Inszenierungsproblem damit, daß er jedem Versuch, ein von ihm bearbeitetes und dargestelltes Werk Offenbachs mit den vorhandenen Kräften anderer Theater und vor den vorhandenen Kräften der Theaterkritik zu inszenieren, entgegentritt!

Der Verfasser des deutschen Textes der »Madame l’Archiduc« erklärt, daß die Herausgabe eines photographierten Gesangstextes, in den die Fehler des Buches übernommen wurden und der auch eine falsche Druckanordnung aufweist, ohne seine Autorisation erfolgt ist. Er stellt fest, daß Käufer dieses Gesangstextes, dem nachträglich ein Fehlerverzeichnis beigelegt werden mußte, vom Erscheinen um zwei Tage früher Kenntnis hatten als der Autor. Er teilt Lesern und Hörern mit, daß die »Universal-Edition« den Bühnen in Prag und Essen wie dem Wiener Rundfunk einen entstellten Notentext überlassen hatte, den er in Prag und als Spielleiter der Wiener Sendung zur Not wiederherstellen konnte. Sonstiges vertragswidriges Verfahren, das den Bühnen noch Entstellungen im eigenen Wirkungskreis ermöglicht hat, und der Entschluß der »Universal-Edition«, den Vertrag wohl nunmehr zu halten, aber nicht dem Wunsch des Autors gemäß zu lösen, bestimmen ihn kund zu tun, daß weitere Aufführungen einer der von ihm bearbeiteten und von der »Universal-Edition« an die Bühnen verkauften Werke Offenbachs (Madame l’Archiduc, Perichole und Vert-Vert) zwar unter seiner Kontrolle, jedoch gegen seinen Willen erfolgen werden.

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