601. Vorlesung am 29.11.1931

Wien
29.11.1931

[Karl Kraus las im Mittleren Konzerthaussaal am] 29. November, ¼8 Uhr

(Vorrede)

Zum 1. Mal

Vert-Vert

[Die Fackel 864-867, 12.1931, 6] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

[...]

Zum 1. Mal

Vert-Vert

Komische Oper in drei Akten von Jacques Offenbach

Neuer Text (nach Henry Meilhac und Charles Nuitter) von Karl Kraus

Musikalische Einrichtung und Begleitung: Franz Mittler

Personen:

[...]

Zeitstrophen zu dem Garnison-Couplet der Corilla im zweiten Akt.

[...]

In Paris zum erstenmal aufgeführt in der Opéra-Comique am 10. März 1869, in Wien im Carl-Theater am 3. Februar 1870 (deutsch von Julius Hopp mit dem Titel »Kakadu«, unter persönlicher Leitung des Komponisten; auf dem Wiener Theaterzettel stehen noch: »Amanda, Cico, Coralie, Blanche, Schauspielerinnen« [die Damen, Bach, Kannet, Rosé und Walter] und »Prasenil, Schauspieler« [Hr. Gämmerler], Figuren, die in dem Wiener Text [bei Bote & Bock, Berlin] nicht vorkommen).

Vom alten Buch, welches, verglichen mit anderen Hopp’schen Übersetzungen wie insbesondere der der »Prinzessin von Trapezunt«, eine beträchtliche Leere und Schablonenhaftigkeit aufweist, aber gleichwohl, dank den großen Darstellern, den Triumph des Musikwerkes nicht verringern konnte, war auch nicht ein Satz, vor allem kein Vers verwendbar. Die neue Fassung stellt — gleich der der Madame l’Archiduc und der Perichole — eine vollkommen neue Übersetzung und Bearbeitung vor: diese in dem Sinn einer sprachlichen Auffüllung, die die echt theatermäßige Grundlage des musikalischen Zaubers unangetastet läßt. Wenn bei deutschen Lesern — auch bei jenen, die auf die »eigenen Schriften« des Bearbeiters und Vortragenden erpicht sind — wirkliches Interesse für die Begebenheiten innerhalb der Sprache vorhanden wäre, so könnte es für sie nichts Spannenderes geben als (im Vergleich gerade dieser Verdeutschung mit dem französischen Original und insbesondere mit der alten Übersetzung) den Abenteuern nachzuspüren, die da im Bann dreifacher sprachlicher Bindung: durch den Vers, durch die Übersetzung und durch den Zwang der Musik, zu bezwingen waren. Annähernd die Summe dessen, was Dichter, Rezensenten, Dramaturgen und Regisseure heute nicht wissen und nicht ahnen, ist hier, bloß im Dienst musikdramatischer Wirkung, in der Inszenierung des Wortes, so ziemlich an jedem einzelnen Vers geleistet. Das ist aus dem Grunde bei weitem nicht so großsprecherisch als es klingt, weil es, abgesehen von der Beweisbarkeit, nur den Wert der Leistung, nicht des Werkes betont, welches ja, losgelöst von der Musik, gar nicht in Betracht zu kommen hat. Doch wäre wohl alle Bemühung vergeblich, Verständnis für Sprachwerte anzusprechen, die keinem unmittelbar sozialen Zweck unterstellt sind und erst in jener Entfernung von dem Begriff eines »Zeittheaters« erfaßbar, in der alles wahrhaft Geistige Raum hat. Ein Dutzend Bände Sprachlehre könnte mit der Nachweisung dieser Werte gefüllt werden, nicht ohne das Ergebnis, daß die Lehre ganz wie das Beispiel für den Zeitverstand vergeudet wäre, dem am wenigsten der Glaube imponiert, daß die Erfassung des Sprachwesens es ist, was irgendeinmal allen Zeitstoff entbehrlich oder überwindlich macht. (Gleichwohl könnte es nichts Antiquierteres geben als die Ideologie, die jener mit der Vorstellung des »Dichtens« mitschleppt. Nicht Schwärmen ist es, sondern Schmieden; genug des Feuers in dem Tun, dem der Prometheus der »Pandora« das Wort anschmiedet: »Geschwungne Hämmer dichten, Zange fasset klug«. Welch eine Metapher dieses Dichtmachen, im Vergleich mit dem Treiben solcher, die »bewegtem Rauchgebilde nach, mit trunknem Blick« sich stürzen. »Wildstarre Felsen« — der Sprache — widerstehn jenen keineswegs.) Doch welches Dichten — poiein, machen — wäre denkbar, das dem Sprachwesen so nahe kommt wie eines, das, freilich unter dem Zauberstab dieser Musik, den Spuren einer völlig zeitfremden Liebeshandlung zu folgen hat! Das schon geschriebene Liebesgedicht des Grafen d’Arlange zu schreiben, bis zu jener Unvollkommenheit, die der Musik die Erfüllung gewährt — darin ist manches Liebesgeheimnis der Sprache aufgeschlossen, deren Verbindung mit dem Ton in ihrer unerschöpflichen Bereitschaft beruht. Die Vertonung des fertigen Sprachkunstwerks stellt ein Nebeneinander zweier Welten her bis zur Zerstörung beider. Das wahre Ineinander ist das Ergebnis der Eindichtung des Wortes in die Musik, die bei einem Tondramatiker wie Offenbach durch den Text verbessert oder verschlechtert werden kann. Der Versuch eines Sprachdilettanten, sie ihrem psychischen Milieu zu entreißen, hat bei der Helena-Schändung durch Herrn Reinhardt dazu geführt, daß ein Musikkenner, der eben kein Offenbachkenner war, eines der aufgepfropften Zitate für ein Original von Korngold hielt (ganz wie in Wien die Perichole-Arie mit einem Greueltext nach Pauspertl klang). Wer Offenbach textlich verhunzt, verhunzt ihn musikalisch, selbst wenn er keinen Takt verändert. Was zu tun bleibt, ist: ihn dort, wo der alte Text nicht schon mit der Musik unlösbar vermählt ist — also in den berühmten Stellen von »Helena«, »Orpheus«, »Blaubart«, »Pariser Leben« u. a. —, besser übersetzen. Der Handlungswert ist gleichgültig; sprachlich verdichtet, sind alle diese Szenarien Spielraum der Dinge, die uns nichts und alles angehen, Gelegenheiten des ewigen Theaters, das jenseits jeder Zeitforderung spielt und mit allem Spott, den seine Musik hat, ihrer spottet. »Vert-Vert«, mit den uns nichts angehenden Dingen, die sich zwischen Pensionärinnen, Dragonern und Komödianten begeben, erscheint dem Übersetzer als der Gipfel der Naturschönheiten dieser musikalischen Märchenlandschaft. Vorläufig wenigstens; denn hier kommt immer etwas Besseres nach.

Die äußeren Schwierigkeiten einer Beschaffung des Materials waren geringer als die bei »Perichole«, aber noch groß genug. Der verkürzte deutsche Klavierauszug entbehrt etlicher schönen Teile, die der aufgefundene (damals vergriffene) französische Klavierauszug enthält. Aus diesem war wieder die musikalische Bedeckung für musikdramatisch wichtige Verse des gedruckten französischen Textes (bei Michel Lévy Frères) herzustellen; der Einrichter der Musik hat sich dieser Arbeit mit der denkbar größten Offenbachtreue unterzogen. Der schwächliche Hopp’sche Text, nach dem der verdünnte deutsche Klavierauszug gearbeitet ist, läßt vor allem die musikdramatisch wichtigste Stelle des Schlußaktes vermissen, wo die herbeigerufene Mimi die Ausrede für ihre Entfernung vorbringt und den Verweis der Vorsteherin bekommt. Der Übersetzer ersetzt diese unentbehrliche Partie, ohne die der Schlußakt in die kahle Realität versinkt, durch ein paar Prosasätze, die mit ihrer Leere verlängernd wirken und sich als aufgegebenen Versuch, als Beweis, daß jener die schwierige Versnachbildung nicht durchführen konnte, verraten, in dem Rudiment: »Wo waren Sie? Was machen Sie? Man vermißt Sie schon seit heute früh!« Sie hat erotische Gespräche belauscht:

C’était charmant!
Je ne connais rien vraiment
De plus amusant!
Les gais discours!
On redit là tous les jours
Propos d’amours.
usw.

So haben es die Textdichter gedruckt.

—  —  —  — 
 

So, wie man vermutet, zu lesen, wäre es leicht übersetzt, wie
schwer es auch immer sein mag, den leichten französischen
Klang- und Endungsreim durch einen vollgültigen, und hier drei-
fachen, deutschen zu ersetzen. Aber Offenbach hat — und der
Nachdichter erlebt auf Schritt und Tritt solche Überraschungen —
komponiert:

C’était charmant!
Je ne connais rien vraiment de plus amusant!
Les gais discours!
On redit là tous les jours propos d’amou—ou—rs.
usw.

Wo bleibt da noch der Reim »vraiment«? Und so in vierfacher Abwandlung! Also nicht:

Das war charmant!
Mir war nichts noch bekannt,
Was so amüsant! …

Unmöglich nun wäre:

Welch Ent| zücken …

Aber (in freier Nachgestaltung der Strophe) geht es so:

Solches, | Schwestern,

worauf eine zu beachtende Verwendung des Mittelreims als hörbaren Binnenreims eintritt, die der musikalischen Wirkung zugutekommt:

Wußt’ ich noch nicht gestern, müßt mich drob nicht lästern …

(Entsprechend also einer im französischen unmöglichen Stellung:

Je ne connais vraiment | rien de plus amusant.)

Und so durch alle Fortsetzungen und Varianten. Wie schwer es ist, zur Musik aus einer Sprache zu übersetzen, in der sich nicht nur alles reimt, sondern auch jede Akzentverschiebung erlaubt ist, mag insbesondere aus dem folgenden Beispiel hervorgehen. Da gibt es (im Finale des zweiten Aktes):

Versez! amis! Versez! toujours!
Ce vin béni par les amours!

Man würde keine andere Betonung für möglich halten. Doch
heißt es auch:

Versez! amis! Versez! toujours!
Ce vin béni par les amours!

Das erfordert zwei deutsche Fassungen:

Schenkt ein, ihr Freunde, schenkt doch ein!
Wir weihn dem Liebesgott den Wein!

Aber für die andere Stelle geht natürlich nicht:

Schenkt ein, ihr Freunde, schenkt doch ein!
Wir weihn dem Liebesgott den Wein!

(Es wäre die Girardische Mundart.) Sondern:

Freunde, laßt von Bacchus’ Reben
Auch den Gott der Liebe leben!

In der Hopp’schen Sprachregion sind solche Divergenzen leichter bereinigt.

Die Brüchigkeit und Schalheit der Verdeutschung durch einen sonst tüchtigen Theaterhandwerker konnte freilich dem blendenden Erfolg des »Kakadu« keinen Eintrag tun. Hanslick lobt jene und preist die Musik, mit der apodiktischen Banalität, die sich sonst mit Offenbach, wie zum Beispiel bei »Blaubart« und den »Briganten«, so blamiert hat, in einem Feuilleton (Neue Freie Presse, 6. Febr. 1870):

Aus den theatralischen Ereignissen dieser Woche sticht der ent- schiedene Erfolg von Offenbach’s komischer Oper »Vert-Vert« hervor, die unter dem Titel »Kakadu« im Carltheater zum erstenmale gegeben wurde. — — Es gleicht einem Wunder, daß dieser fruchtbarste aller modernen Opern-Componisten noch nicht erschöpft ist. Eine Fülle lieblicher und pikanter Melodien strömt ihm zu; daß eine und die andere davon Offenbachsche Familien-Ähnlichkeit aufweist, ist bei solcher Productivität unausweichlich. Genug, daß »Vert-Vert« zu den gelungensten Arbeiten Offenbach’s zählt und überdies das Gepräge einer sorgfältigeren Ausarbeitung trägt. Diese größere Sorgfalt des Componisten äußert sich fürs erste in dem getreuen, oft sehr fein empfundenen Anschmiegen der Melodie an das Wort*) und die Situation, sodann in der Delicatesse der Instrumentierung. Wie reizend ist z. B. die Begleitung der Barcarole im zweiten Acte, wie ungezwungen zugleich und characteristisch! Außer dieser Barcarole (wohl der hübschesten Nummer) enthält die Oper noch mehrere Gesangsstücke ernsteren Characters, in welchen der Ausdruck leichter Schwermuth, Sehnsucht oder Zärtlichkeit durchaus wahr und zart wiedergegeben ist, ohne je in das Pathos der großen Oper umzuschlagen**). Solche Nummern sind zum Beispiel die Romanze der Mimi im ersten Act:
»Il n’est plus un enfant«, Valentin’s Leichenrede am Grabe des Papageis und sein Abschied vom Pensionat, endlich das kleine Liebesduett zwischen Valentin und Mimi im dritten Act. Was im Carltheater den größten Beifall erregte, ja geradezu Enthusiasmus hervorrief, ist das Finale des zweiten Actes mit dem Trinklied, eine frische, aber sehr handgreifliche Musik, Product großer Bühnenkenntnis, aber etwas liederlicher Phantasie. Hingegen stimmen wir gern in den Applaus ein***), welchen das Publicum mehreren komischen Nummern spendete, unter welchen das »Schlüsselduett« des Tanzmeisters mit der Vorsteherin, die Duett-Couplets der beiden Dragoner, endlich die große Tanzlection Baladon’s obenan zu nennen sind. — —

— — Das Publicum errieth das große Verdienst des Directors Ascher um diese Vorstellung und rief nach dem Actschlusse seinen Namen neben dem Offenbach’s. Daß Letzterer, welcher bei der ersten Vorstellung das Orchester dirigierte, auf das schmeichelhafteste ausgezeichnet wurde, bedarf kaum der Erwähnung. — —

Er lobt die Darstellerin des Vert-Vert, tadelt aber die Besetzung der Rolle mit einer Dame, während sie in Paris dem »schmelzenden Tenor des gefeierten Capoul« anvertraut war, ja angeblich für ihn geschrieben. Offenbach hat bestimmt nichts »für« Sänger geschrieben, und die Wiener Auffassung der »Hosenrolle« war ganz so richtig, wie es falsch wäre, den Rafael in der »Prinzessin von Trapezunt« von einem Tenor singen zu lassen. Capoul mag ein Ausnahmsfall gewesen sein; auf der heutigen Opernbühne wäre die männliche Besetzung einfach widerwärtig. Das Urteil Hanslicks, der noch fälschlich behauptet, daß in Paris Demoiselle Cico die Corilla gesungen habe, wird hier nicht
wegen seiner Gewichtigkeit wiedergegeben, sondern wegen des Umstandes, daß selbst der Originalbeckmesser den Erfolg nicht herabsetzen und nicht vermindern konnte. Bemerkenswerter ist die Äußerung des Biographen André Martinet (Offenbach, sa vie et son œuvre, Paris, Dentu et Cie, 1887):

— — pour inaugurer 1869 retour de la Grande Duchesse au Variétés. Un peu après, excursion de Jacques à Vienne, où la Périchole est acclamée.

10 mars: Vert-Vert à l’Opéra Comique. — Succès plus grand encore que celui de Robinson. Une création exquise pour Capoul, ce Valentin jadis représenté par Déjazet dans la comédie de Deforges et de Leuven, remaniée pour Offenbach. La musique traduit à ravin toutes les nuances du rôle, timide d’abord, puis tendre, pétulant, emporté; il est impossible de pousser à plus haut degré la science du contraste. Voici, dans le second acte, l’air de bravoure de Corilla, l’Alleluia naif et charmant****), le duo entre la cantatrice et Vert-Vert qui s’anime, qui vit, qui palpite, et l’éclatant final encadrant la chanson à boire.

Et comme pour exprimer son amour, Mimi trouve des accents autres que ceux de la Corilla, et avec quelle grâce exquise Offenbach fait entre- voir une larme sous l’élégant contour de sa mélodie, larme qui perle mais ne tombe pas.

La leçon de dance n’est elle pas un bijou, elle aussi, si adroitement écrite, courant du menuet à la Valse!

L’Opéra-Comique ne s’était pas montré plus avare pour Vert-Vert que pour Robinson. Autour de Victor Capoul il avait groupé Couderc, Sainte-Foye, Gaillard, Ponchard; à côté de Mlle Girard, Jacques retrouvait deux de ses anciennes interprètes: Mlle Cico d’abord, puis Mlle Moisset qui, autrefois, sous le nom de Gabrielle Méry, avait paru dans Les Géorgiennes, aux côtés de Mme Ugalde.

Dès la semaine suivante, pour les remercier solennellement de la part prise dans cette heureuse bataille, Jacques réunit ses artistes chez Brébant. Les auteurs ont invité Vert-Vert Ier qui s’excuse en ces lignes:

»Cher maître,

»J’ais quitté mon lit pour aller entendre votre oeuvre, et si le plaisir guérissait, certes, en ce moment je serais sur pied. Malheureusement il n’en est rien et, malgré la bonne soirée que je vous dois, j’ai repris le cours de mes souffrances qui comptent sept mois aujourd’hui.

»Il m’est donc impossible d’accepter votre flatteuse invitation, mais comme depuis longtemps mes nuits sont sans sommeil, soyez sûr que pendant celle de mercredi toutes mes pensées seront avec vous.

»De votre côté ne m’oubliez pas, et en compagnie de vos délicieux interprètes, portez une santé à la pauvre absente. Jamais voeu n’aura été formé plus à propos.

»Merci aux auteurs! à vous! à tous!

Déjazet.

Vert-Vert est lancé et si bien qu’il ne s’arrêtera qu’en plain été. — Repos de quelques semaines seulement, en attendant la fin du congé de Capoul qui rentrera à la salle Favart sous les traits de Valentin.

Die erste Aufführung des erneuerten Vert-Vert findet im Januar, unter der Wortregie des Bearbeiters, im Berliner Rundfunk statt. Jede Inszenierung Offenbachs, die die Formen seiner musikalischen Welt unangetastet läßt, werde als Protest gegen die epochale Schändung der »Helena« durch Herrn Reinhardt angesehen. So verbrieft schon das Recht des Bearbeiters, der bloß ein Finder und Erhalter ist, auch sein mag: immer den letzten Fund für den besten zu halten, so glaubhaft sei doch versichert, daß er rückblickend die Werte unterscheidet und Vert-Vert an die Seite der ihm musikalisch am nächsten und höchsten stehenden Madame l’Archiduc stellt, ja selbst dieser noch als ein Beispiel vorzieht, wie sich Sprache mit Musik verbindet.

*) Das trifft umgekehrt, wenngleich nicht durchaus, für das französische Original zu. Aber der Hopp’sche Text schmiegt sich der Musik ganz äußerlich an, und diese hat ihm natürlich kein Zugeständnis gemacht.

 

**) Wie richtig, da dieses nur parodiert wird!

***) Wie gnädig von uns!

****) Von Hanslick abgelehnt.

Die Erneuerung Offenbachs durch Karl Kraus

(Aus ‚Theaterwelt‘, der Programmschrift der Städtischen Bühnen in Düsseldorf, zur dortigen Erstaufführung der »Perichole«)

Es ist durchaus begreiflich, daß eine Zeit, die so wenig geistige Gehalte zu produzieren vermag und so entschlossen ist, die wenigen,die sie besitzt, durch Mißhandlung zu beschädigen oder durch Verachtung zu unterdrücken, wie die gegenwärtige, sich aus einem unzerstörbaren Drang nach solchen Gestalten in umso stärkerem Maß den Geisteswerten der Vergangenheit zuwendet. Während diese im Bezirk des ernsten Theaters schon seit je gepflegt wurden, beobachtet man neuerdings eine stets wachsende »Renaissance« alter Werke der sogenannten »leichten« dramatischen Literatur. Aber selbst diese höheren Werte werden der Gegenwart erst zugänglich gemacht, nach- dem sie auf dem Weg der »Bearbeitung«, wie man das nennt, auf das Niveau des Unwertes heruntergebracht worden sind. Darum sehen wir heute eine beträchtliche Anzahl von Literaten und Musikern am Werk, mehr oder minder bedeutende Operetten und andere »leichte« Theaterstücke einer glücklicheren Epoche dem angeblichen Konsumbedürfnis eines erst durch die Tätigkeit jener Menschen herabgekommenen Publikums anzupassen. Mit großer Sorgfalt und Sachkenntnis wird aus den Meisterwerken verlorener Zeiten alles entfernt, was ihre Distanz von der Welt ihrer Verderber beweisen könnte, und durch den faulen Zauber, das öde Hokuspokus des eben von den »Bearbeitern« in- augurierten Revuehumbugs ersetzt, wobei diese dem selbst für sie nicht zerstörbaren Kern des begnadeten Urbildes mit Recht mehr vertrauen als der humorlosen Aufmachung, mit der sie ihn garnieren. Daß das Ganze dann von den Urhebern des Unfugs als dringend notwendige Veredlung des von ihnen zuerst heruntergewirtschafteten Genres ausgegeben wird, ist die unfreiwillige Pointe in diesem komplizierten, von dummen Teufeln inszenierten Quiproquo.

Geradezu kriminell ist es aber, wenn, wie es mitunter selbst an Stellen geschieht, denen eine bessere Einsicht in diese Sachverhalte zugetraut werden muß, die Erneuerung der Offenbachschen Meisterwerke durch Karl Kraus mit jenen Versuchen einer durch Talentlosigkeit zum Mangel verurteilten, tantiemelüsternen Erwerbslosenclique in einem Atem genannt wird. Ganz abgesehen davon, daß er diese Tätigkeit zu einer Zeit begann, als jene noch fröhlich ihre eigenen Mistbeete bebauten, und daß er ihnen, ungenannt und unbedankt, gegen seinen Willen den Weg zur Plünderung der alten Pracht wies, ist es jedem Kenner seines Werkes klar, aus wie anders be- schaffenen Motiven er zur Befassung mit dem Oeuvre Offenbachs gelangte. Hier vollzieht sich ganz konsequent die Erlösung des Satirikers von der lustvollen Plage, die ihm sein unerschöpflicher Stoff bereitet. Nachdem ihm viele Jahre lang das Werk des in so vieler Hinsicht kongenialen Nestroy Folie, Bestätigung, Stütze und Hilfe in seinem Kampf mit den Gespenstern der Gegenwart gewesen war, gelangt er nun, mit Offenbach, in jene Region, wo sich die bitteren Kontraste im Spiel vertragen. Die alte, zauberhafte Musik läßt mit ihrem unausdenkbaren Reichtum an Gestalten, bei tiefster Einfachheit ihrer Grundtatsachen, eine immer wachsende Oase in dem sich stets verdüsternden Kampfgefilde dieser Zeiten entstehen. Hier darf sich, ungestraft, viel Holdes begeben, was außerhalb dieser Welt heute nicht gedacht, gesagt, getan werden kann, weil der unaufhörliche Mißton der Zeit als Echo nur das Hohngelächter des Spötters duldet. Diese Haltung begründet den Verzicht auf jede materielle, grobschlächtige Aktualisierung der alten Texte bei Kraus, im Gegensatz zu den landläufigen tölpelhaften Anzüglichkeiten anderer Bearbeiter, die nur von Dickhäutern für geistreich gehalten werden können. Daß uns die Figuren Offenbachs in der Krausschen Erneuerung dennoch ganz nahe kommen, liegt an ihrer inneren Aktualität: wie alle richtigen Theaterpersonen stellen sie unveränderliche Typen menschlichen Verhaltens dar, in zahllosen Abwandlungen und Ausprägungen, und bedürfen darum keiner konkreten Bezüglichkeit, um Leben zu gewinnen. Mit seiner ganzen leidenschaftlichen Liebe zur Wahrheit und Schönheit des menschlichen Herzens, mit der ganzen fanatischen Unerbittlichkeit seines Künstlertums versenkt sich Kraus in die unscheinbaren Texte, die beim ersten Anblick, insbesondere aber in den meisten zeitgenössischen Übersetzungen ins Deutsche bestenfalls wie harmlose Schablonenware liebenswürdiger Konfektionäre anmuten, und es ist erstaunlich, ja unglaublich, wie unter seinen Händen plötzlich die dichterische Substanz des Urbildes aufleuchtet und, von seiner liebenden Sprachgewalt geadelt, einen nie geahnten Glanz ausstrahlt. Dabei geht er mit peinlicher Akribie nicht nur dem Gedanken des Urtextes nach und enthält sich, soweit es nur angeht, jeder sogenannten »Freiheit« der Übersetzung, sondern sucht auch stets die der musikalischen Diktion am klarsten adäquate sprachliche Wendung. So gelingt es ihm, während jene Verderber alter Kostbarkeiten schließlich doch nur den Abgrund immer deutlicher machen, weil sich das Geistesgut der Vergangenheit zu seiner Verkleisterung nicht mißbrauchen, sondern nur seine Tiefe erkennen läßt, uns mit einem Schlag die unversehrte Zauberwelt einer gnadenvollen Theaterepoche zu zeigen, deren Vorhandensein in diesen Zeitläuften ein unerwartetes Geschenk ist und ein hilfreicher Trost für alle »Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst erweist«.

Ernst Křenek