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THEATER DER DICHTUNG
Perichole
Operette in drei Akten (fünf Abteilungen) von Jaques Offenbach
Neuer Text (nach zwei Fassungen von Henry Meilhac und Ludovic Halévy) von Karl Kraus
Musikalische Einrichtung und Begleitung: Franz Mittler
Zum erstenmal aufgeführt im Théâtre des Variétés am 6. Oktober 1868, in der zweiten Fassung am 25. April 1874
Personen:
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In der Übersetzung von Richard Genée zum erstenmal im Theater an der Wien am 9. Januar 1869, in der zweiten Fassung am 25. April 1878 (mit Fräulein Geistinger und Fräulein Tellheim als Perichole und den Herren Swoboda als Piquillo, Friese und Girardi als Don Andrès; das erste Mal mit Rott als Don Pedro, das zweite Mal mit den später berühmt gewordenen Sängern Schrödter und Lieban in den kleinen Rollen der Notare).
Zeitstrophen zu dem Couplet »Inkognito«, zu dem Lied »Die Frauen! die Frauen!« und zu dem Bolero »Wir Gatten beugten stumm die Rücken«.
Nach der zweiten und nach der dritten Abteilung eine Pause.
Bechstein-Flügel
Notiz des Wiener Programms:
Keines der Offenbach’schen Werke — nicht einmal »Die Seufzerbrücke« — hat den Bearbeiter vor eine ähnliche Schwierigkeit gestellt; keines aber auch dermaßen die Mühe gelohnt, zu dem Ziele der Bergung einer verschollenen Kostbarkeit zu gelangen. Die Kompliziertheit der Aufgabe, an einem Material von äußeren und inneren Bruchstücken zu arbeiten, muß sich auch in der Darstellung all dieser Umständlichkeiten ausdrücken. Aus zwei Fassungen von »La Périchole«*), die vorlagen, schien es zunächst unmöglich, den ganzen musikalischen und textlichen Wertbestand festzustellen. Die erste Fassung (in zwei Akten, drei Abteilungen) wurde in Paris 1868, die zweite (in drei Akten, vier Abteilungen) 1874 aufgeführt; in Wien, in der Übersetzung von Richard Genée, 1869 und 1878. Von der Musik war zunächst nur ein Klavierauszug der ersten Fassung vorhanden, dem ein einziges Lied aus der Kerker-Szene der zweiten (Tu n’es pas beau, tu n’es pas riche) beigefügt ist. Vom Text: das französische Original der zweiten Fassung (bei Calman-Lévy 1924) und eine Übersetzung der ersten von L. Kalisch (Ed. Bote & G. Bock 1870). Diese beiden Texte haben als Grundlage der neuen Bearbeitung gedient, welche sich für etliche Dialogstellen und szenischen Motive, die in der zweiten französischen Fassung nicht vorkommen, auf die Übersetzung von Kalisch stützen mußte und von ihr auch zwei glückliche Wendungen der Brief-Arie (siehe »Worte in Versen« IX) etwas verändert übernahm. Sonst entsprechen die Gesangstexte dieses Buches nicht einmal dem äußerlichen Erfordernisse rhythmischer Deckung, während freilich der Dialog hoch über dem Niveau der Berliner Offenbach-Texte steht. Die Wiener Übersetzung (beider Fassungen) war mit Ausnahme einiger Gesangsstücke in keinem Archiv aufzufinden. Da aber die von Kalisch die dramaturgischen Schwächen des ersten französischen Originals durchaus fühlbar macht, so wurde auch für die Einrichtung im Wesentlichen nur das zweite herangezogen. So wertvoll nun dessen Bereicherung um die Kerker-Szene erscheint, die Fehler — eines hypertrophischen ersten Aktes und eines allzu beiläufigen Abschlusses — sind auch hier vorhanden, wozu noch der peinliche Ausklang der Kerker-Szene kommt. Es blieb nichts übrig, als das zweite französische Original — mit der gänzlichen Neudichtung der Gesangstexte — in freier dialogischer Übersetzung stellenweise umzuformen. Was da zunächst unerläßlich war: die Überfülle des ersten Aktes theatermäßig zu teilen, geschah so, daß nunmehr die erste Abteilung mit der berühmten Brief-Arie (versifiziert nach dem Brief der Manon bei Prévost, eine Partie, der in Offenbachs Schöpfung nur noch der Metella-Brief oder das Lied des Fortunio nahekommt) ihren Abschluß findet. So wird eine Atempause ermöglicht, die das im Orchester fortgespielte Motiv ausfüllt. Es bricht ab, wenn vor der in Gedanken versunkenen Perichole der Vizekönig, mit dem Geldbeutel in der Hand, auf der Schwelle des Pavillons erscheint; die Schicksalswende ist vollzogen, und nun erst setzt — nach der grotesken Rettung des Selbstmörders Piquillo — die eigentliche Operettenhandlung ein, als jener Genieeinfall, der die Bühne mit dem Rausch aller Beteiligten förmlich überschwemmt. Dem dramatischen Fehler der zerflatternden Hofhandlung hatten die Autoren durch die reizvolle Kerker-Szene nur unvollkommen abgeholfen, deren operettenwidriger Ausgang geändert werden mußte, gleich der ganzen letzten Abteilung, welche jene, anstatt bei Hofe, auf dem Schauplatz des Anfangs, vor der Schenke der drei Cousinen, spielen ließen und die dramatisch kaum gelungener war als der Schluß der ersten Fassung. Das Wunderwerk ist seiner unglücklichen szenischen Struktur, die auch dem Zauber des Milieus und dem vielfältigen Reiz der textlichen Einfälle entgegenwirkte, zum Opfer gefallen. Trotz den Qualitäten des Buches, die natürlich alle Manufaktur späterer Librettisten aufwiegen, ist hier Offenbach mit einer Schöpfung, die ihm so sehr am Herzen lag, an seinen Autoren gescheitert, die immer wieder — was auch das aufgefundene Beiwerk von Arien beweist — vergebens versucht haben, die musikalische Pracht zu rehabilitieren. Der Bearbeiter, der namentlich an die Übersetzung und Anpassung der Verse eine ähnliche Arbeit wie an den Text der in Rang, Stil und Handlung ähnlichen »Madame l’Archiduc« gewandt hat, hofft, durch die Verteilung des dramatischen Gewichts und namentlich durch die Belebung des letzten Bildes, das er im Vorhof des Palastes spielen läßt: mit dem Auf und ab der Patrouillen und der Entflohenen, das Werk für die Bühne gerettet zu haben — ganz jenseits der Gewißheit, daß nunmehr der Einklang von Vers und Musik ein dramatisches Element bildet, wie es die Sprache des Originals viel leichter bereitstellt und das den früheren deutschen Texten durchaus gemangelt hat. Die Schwierigkeit wurde hier noch durch den Umstand erhöht, daß der Text des Klavierauszugs vielfach nicht mit dem der Buchausgabe von 1924 übereinstimmt. Es würde ein Kapitel sprachkritischer Betrachtung ausfüllen, wollte man nur die Veränderung darstellen, die ein aus dem Buch übersetztes Gedicht durch die Entdeckung erfuhr, daß Offenbach statt der motivisch wiederkehrenden Zeile: »Ma femme, avec tout ça, ma femme« bloß ein wiederholtes »ma femme, ma femme« (als schönsten musikalischen Seufzer) komponiert hat. Die musikalische Bearbeitung hat die zweite Fassung um Partien der ersten, die nicht übernommen waren, bereichert, was durch die szenische Neugestaltung ermöglicht war oder diese beeinflußt hat. In der zweiten Fassung hat Offenbach das einzigartige Finale der nunmehrigen dritten Abteilung, das auf der Spaltung des Wortes »ré-cal-ci-trant« aufgebaut ist, noch durch eine rhythmische Verschiebung des Motivs (aus dem Walzer in einen Cancan) verstärkt. Die auf dieser zweiten Fassung beruhende Bearbeitung war vollendet, bevor man mehr als den Klavierauszug der ersten und einige aus dem zerstörten Archiv des Theaters an der Wien in die Nationalbibliothek (Albertina) gerettete musikalische Reste vor sich hatte. (Zunächst fand sich dann im Besitz eines französischen Sammlers ein Exemplar der ersten Fassung in einer Ausgabe, die eine Szene des als Juwelier verkleideten Vizekönigs enthält, deren dramatische Bestimmung sich nicht ermitteln ließ.) Der Klavierauszug der zweiten Fassung, auf die es wegen des schon übersetzten Kerker-Bildes ankam, schien verschollen — weder in Wien noch in Paris gelang es ein Exemplar aufzutreiben —, bis ein freundlicher Helfer ein schön erhaltenes Unikum feststellte, das die Berliner Staatsbibliothek besitzt. (Der Pariser Verlag besteht längst nicht mehr.) Ohne diesen Fund hätte man auf die herrliche Musik der Kerker-Szene verzichten müssen, mit Ausnahme des einen Liedes, das der alten und noch vorrätigen Fassung beigefügt ist, und einiger Stellen, die durch Stimmen rekonstruierbar waren, wie sie der musikalische Bearbeiter, Franz Mittler, in dem heillosen Kunterbunt des Wiener Archivs auffand. (Von dem Beiwerk, das da noch brachliegt, könnten hundert Musikdiebe leben, die aber nunmehr ertappt würden.) In Wien, wo eine planvolle Strategie zur Verwüstung von Schätzen und Dokumenten einer alten Theaterkultur gewaltet zu haben scheint — während man drauf und dran ist, den wiedergeborgenen Offenbach zu schänden —, waren nicht einmal die Theaterzettel der Erstaufführungen aufzutreiben, so daß nur eine unvollständige Rekonstruktion aus alten Zeitungsnummern möglich war. Wahrlich »verklungen und vertan« wäre diese ganze Herrlichkeit, von der Herr Korngold behauptet, daß sich Wien immer zu ihr bekannt habe, »hinter dessen Rücken« sich die deutschen Offenbach-Schändungen abspielen —; verklungen und vertan wäre sie, wenn nicht solche Mühe aufge- wendet wäre: mitten in Wien hinter dessen Rücken!
*) »Comment prononcer le mot Périchole? Meilhac voulait qu’on prononçât le ch comme dans ‚écho‘.« (Louis Schneider)
[Jugendbildnis Offenbachs (Aus der Biographie von Anton Henseler)]
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