436. Vorlesung am 15.03.1928

Wien
15.03.1928

[Karl Kraus las im Architektenvereinssaal am] 15. März:

(Auf dem Plakat unter der Devise: »Gegen die Wiener Offenbach-Schändung«.)

Zum 3. Male

Offenbach: Pariser Leben.

Begleitung: Otto Janowitz.

[Die Fackel 781-786, 06.1928, 60] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Programmzettel

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Zum 3. Male 

Pariser Leben

Operettte in 4 Akten (5 Bildern) von Jacques Offenbach

Text nach Meilhac und Halévy

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Die Zuwendungen aus den Erträgnissen werden in der Fackel ausgewiesen

Aus einem Moskauer Bericht:

— — Nur geht der Kampf nicht gegen die Operette als solche, sondern gegen den »Wiener Operettenstil«. Die unpolitischen Kritiker schrieben, die Wiener Operette gebe dem sowjetistischen Zuschauer nichts mehr, sie erfülle nicht nur keine der sozialen Aufgaben, die die herrschende Weltanschauung dem Theater stellt, sondern sei auch für den heutigen russischen Zuschauer unverständlich und uninteressant. Und wenn die Kasse anders spreche, so sei darauf hinzuweisen, daß es Händler und Schieber sind, die das Operettentheater füllen, und die sind ja Bürger zweiter Klasse. Die Presse verlangte eine neue, und zwar eine russische Operette. — — Es ist kein Zufall, daß Granowski und Tairoff die alten französischen Operetten wählen. Vor der Regierungsbehörde, der »Repertoirekommission« können sich nur die Klassiker der Operette behaupten. Und auch das Moskauer Operettentheater wird gezwungen, sich diesen Forderungen anzupassen. »Die Zirkusprinzessin« ging noch über die Bretter, aber dann wurde von oben her die Forderung nach der Belebung der alten klassischen Operette gestellt. Und so versucht sich das Moskauer Operettentheater in Offenbachs »Schöne Helena«. — — Die Diskussion über die Operette ergab nun, daß endlich die Operette als solche von der Öffentlichkeit Moskaus, damit auch von der Öffentlichkeit Rußlands »de jure« anerkannt wird. Bei der Erörterung der Fragen: Brauchen wir noch die klassische Operette? Und wie soll die russische Operette beschaffen sein? siegte die Meinung, daß auf Offenbach und Lecocq noch nicht verzichtet werden kann — —.

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