Vorlesungsprogramm Karl Kraus

Transkription: 

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König Lear

Tragödie in fünf Aufzügen von Shakespeare

nach Wolf Graf v. Baudissin (Schlegel-Tieck’sche Ausgabe) und anderen Übersetzern bearbeitet.

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Nach dem 1., 3., 4. Aufzug eine ganz kurze Pause, nach dem 2. eine Pause von 10 Minuten.

Musik  vor Beginn , zwischen dem 2. u. 3. Aufzug und während der Zeltszene des 4. Aufzugs.

Der volle Ertrag wird dem Arbeiterverein »Kinderfreunde« (V. Rechte Wienzeile 97), dem »Verein von Kinderfreunden in Wien« (Kinderasyle in Zillingdorf und Wien XIX, Hartäckerstraße)  und einer schwerkranken Frau. zugewendet.

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Der Vortrag macht nicht den Anspruch, große Schatten des Burgtheaters zu beschwören, sondern nur, die Spuren der  Herren Wüllner, Reimers und ihrer Mittäter zu verwischen und die Dichtung wieder einzuweihen.

Die Unsäglichkeit der heutigen Burgtheateraufführung, die noch tief unter dem Niveau der einer niedrigen Zeit erreichbaren schauspielerischen Möglichkeiten bleibt, also beinahe an das christlichgermanische Schönheitsideal der Direktion hinanreicht, gehört — von allem Reichtum der Formen und Nuancen abgesehen, in dem sich der leibhaftige Mangel in Spiel, Regie und Szene auslebt — durch etliche einprägsame Momente der Theatergeschichte an. Ein Kritiker hat anerkannt, daß die Regie unter anderen die Szene wieder hergestellt habe, »in der der Haushofmeister Oswald als Liebhaber erscheint«. Als diese nie gestrichene, aber auch nie geschriebene Szene ist jene zu verstehen, in der Regan dem Haushofmeister, also einem für Geld empfänglichen Schranzen, einem von der Sorte, die »Bursche« oder »Schurk’« tituliert wird, einen Brief Gonerils an Edmund abnimmt und ihn nebenher auffordert, den Grafen Gloster aus dem Weg zu räumen: »Ein reicher Lohn wird dem, der ihn erschlägt.« Eine der typischen Szenen, in welchen — andeutend oder geradezu — königliche Verbrecher bei Shakespeare ihre Instrumente anwerben. Bei der Begegnung mit dem blinden Gloster ruft der gedungene Mörder: »Ein Preis verdient! Willkommen!« Jene, für das Verständnis der Handlung kaum notwendige Auseinandersetzung wird im heutigen Burgtheater buhlerisch flüsternd, mit einem Spiel der Blicke und Finger, Schulter an Schulter von einer Schlange (die es doch aber auf den Edmund abgesehen hat) und einem noch immer stattlichen Operettentenor geführt und über den reichen Lohn, der diesem winkt, läßt die indiskrete Regie dem Ahnungsvermögen jugendlicher Galeriebesucher keinen Zweifel. Dagegen wird das schweigende Herz der Handlung: des Narren Hingegebenheit an Cordeliens Schicksal — das in einem einzigen Satz zu wundervollem Klingen kommt, in einem naturalistischen Nebenbei verödet. Ein Ritter Lears spricht zu diesem die Worte: »Seit die junge Prinzessin nach Frankreich ging, hat sich der Narr sehr abgehärmt.« Dies und nichts anderes ist der tragische Wendepunkt der Handlung; hier rollt der erste Donner; hier beginnt, noch vor der entsetzlichen Enttäuschung an den beiden Töchtern, Lears Erkenntnis zum Wahnsinn zu erwachen. Diese und ungezählte andere Herrlichkeiten sind in der kläglichen Wüllnerei, psychologisierenden Impotenz einer neuberlinischen Regie und einer zwischen schlechtestem Reinhardt und bester Muskete erdachten Mandelbogenszenerie untergegangen. Was soll man zu der Nuance sagen, daß der Kent den Oswald wirklich anspuckt und den Vorsatz: »Fürs erste schlaf’ ich was, dann kann ich pfeifen« so ausführt, daß er eine lange Weile hindurch pfeift, bevor er schläft. Oder daß die Anweisung »Schloß des Grafen Gloster« auf einer Szene, die nicht das Pathos zu weiten Hallen findet, ihre Verwirklichung in einem Speiszimmer bei Glosters findet, in das der heimkehrende Familienvater eintritt, wobei ihm ein kostümierter Statist den Monolog zu unterbrechen hat, indem er ihm Mantel und Mütze abnimmt. Die ganze Winzigkeit einer großen Zeit, in der Schauspieler nicht mehr in Distanz zu einander sprechen können und in der Körpernähe auch nicht, die ganze Frechheit dieser Kunstgewerblerei, die alle ihr entrückte Größe auf einen elenden Zimmerton herabstimmt, der Menschheit ganzer Jammer faßt einen bei solchem Theatererlebnis an. »Da könnte wohl der Mensch in salz’ge Tränen vergehn, wie Kannen seine Augen brauchend, des Herbstes Staub zu löschen«, dem wahnsinnigen Lear gleich — wenn man sich nicht heiter erinnerte, daß der urkomische Professor der Psychiatrie, der ihn spielt und den das Publikum auf dem Vortragspodium unentwegt ernst nimmt, eben dabei eine Geste macht, die über seine papierene Tragik ein erklärendes Löschpapier breitet. Und anstatt diesem Herrn Wüllner in Sälen und Theatern ein »Kommentar überflüssig!« entgegenzubrüllen, jubelt die Jugend dieser Tage einem Schulmeister zu, gegen den der Gregori ein Schüler und der selige Strakosch ein Meister war. Die Fähigkeit des Herrn Reimers, einen weißen Vollbart zu tragen, steht über allen kunstkritischen Erwägungen, und Blitz und Donner in der Heideszene beweisen, daß auch im heutigen Burgtheater die Elemente entfesselt sind. Ach, Sonnenthals Herzkrampf, der den Töchtern alles gab und dem Vater mehr, als er dem König schuldig blieb, und erklärend nichts hinzutat, was der Dichter mit Recht versäumt hatte — denn es war einmal ein König, der, unbegreiflich wie’s einmal im Märchen ist, so und so getan hat —: vor wessen Aug und Ohr die Aufführung des Jahres 1890 steht, der muß es unfaßbar finden, daß das Theatergewissen einer Stadt diesen Wandel der Dinge ohne Aufschrei und mit Applaus hinnehmen konnte.

Unschwer würde dem Vorleser eine vollkommene stimmliche Rekonstruktion jener Bühnengestalt gelingen; doch darf nur ein, wenngleich unvermeidliches, Anklingen dem Zweck des Vortrags entsprechen, der nicht das Burgtheater aus der Schmach zurücktragen will, sondern die entehrte Dichtung in das Reich des Shakespeareschen Worts.

Signatur: 
H.I.N.-239585