Vorlesung Karl Kraus. In einem vom Akademischen Verband für Literatur und Musik veranstalteten Abend trat Dienstag abends Karl Kraus, der Herausgeber der ‚Fackel‘, als Vorleser auf. Kraus, der sicherlich zu den stärksten schriftstellerischen Talenten Wiens zählt, ist hier, soweit die Öffentlichkeit durch die Zeitungen repräsentiert wird, fast unbekannt; aber aus seiner teils selbstgewollten, teils aufgedrungenen Einsamkeit übt er dennoch starke Wirkungen aus. Er las zuerst einen ungedruckten Essai: Heine und die Folgen. Kraus betrachtet Heine ausschließlich als Artisten: in welcher Einschränkung aber eigentlich die Beschränktheit des eigenen Gesichtskreises sichtbar wird. Heines »Folgen« sind danach die Feuilletonisten, die Stilschwindler, die in Heine das Vorbild der Beherrschung der Form bekommen haben, welche es ihnen nun so leicht mache, ihre innere Armseligkeit, ihre unkünstlerische Ideenlosigkeit als Geist, Stimmung, Psychologie, kurz als Kunst zu servieren. Heines Ruhm beruhe auf Eindrücken der Jugend, aber die »Folgen« liegen doch schon in ihm: in seiner manierierten Poesie (Kraus läßt von Heine nur die Lyrik des Todes gelten), in seinem Witz ohne Anschauung, in seinem ganzen Wesen, das kein schöpferisch-künstlerisches, nur ein journalistisches war. Das alles trägt Kraus in einer Sprache vor, die von Geist und Witzen geradezu funkelt. Vielleicht zu sehr, als daß ein starker und sich einbohrender Eindruck entstehen könnte. Es ist das besondere Talent dieses Sprachkünstlers, seine Gedanken in Antithesen vorzutragen, sie in einem Gleichnis ausströmen zu lassen, in einem Bilde gleichsam zusammenzuballen. Das ist oft ungemein anscnaulich und man hat nicht selten das Gefühl einer blitzartigen Erhellung: als ob das Bild ebenso das Notwendige wie das Endgiltige ausdrückte. Aber damit der Geist der Gedanken voll wirke, muß sich der Geist der Worte freiwillig beschränken; sonst erdrückt dieser jenen. Indem Kraus darauf verzichtet, dem Leser auch den gedanklichen Prozeß zu bieten, ihm nur das Ergebnis vorlegt, den Gedanken nicht beweist, sondern herrisch aufnötigt, zwingt er die Leser zwar in den Bann seiner Sprachkraft, entläßt sie aber ohne jenes tiefe Behagen, das sich nur beim Mitdenken, das auch ein Miterleben ist, einstellen kann. Seine Überfülle der geistreichen Worte beunruhigt, und man wird die Empfindung nicht los, als ob man von den schillernden Antithesen einfach überrumpelt und vergewaltigt würde. Das hängt ohne Zweifel damit zusammen, daß Kraus eine fast schwärmerische Verehrung vor der Sprache hegt. Sicherlich ist ein Schriftsteller, der den sprachlichen Edelgehalt so ernst nimmt, in unserer Zeit der Sprachverhunzung eine beachtenswerte Erscheinung; aber Selbstzweck darf der sprachliche Glanz und Prunk doch nicht sein; mehr als das Material, aus dem der Künstler sich die Form seiner Gedanken holt, darf die Sprache nicht werden. Das ist die Gefahr: daß aus dem Sprachkünstler ein Wortvirtuose wird. Und was Kraus’ Schroffheit in der Verurteilung der Presse als wirkender Unkultur betrifft, so liegt ihr, von der häßlichen und törichten Ungerechtigkeit dieses verallgemeinernden Urteils ganz abgesehen, ebenso eine Überschätzung wie eine Unterschätzung zugrunde. Denn jene gerissenen Psychologen ergeben beileibe nicht die Institution, und daß der Zeitungsinhalt, über die Vermittlung des Stofflichen hinaus, nicht künstlerisch geformt werden könnte, ist gewiß nicht wahr; ohne den Ruhm der Unsterblichkeit in Anspruch zu nehmen, kann ein Journalist auch ein guter Schriftsteller sein. Übrigens müßte die Kritik hier viel tiefer schürfen; von jener geistigen Verderbnis ist Heinrich Heine weit weniger die Ursache als der Kapitalismus, der die geistige Produktion, genau wie die Produktion der materiellen Güter, zu einer Produktion von Waren gemacht hat … Dem Heine-Essai folgte »Die chinesische Mauer«, eine an die Ermordung der Else Siegel im Chinesenviertel in New-York anknüpfende Phantasie, die mit stellenweise dämonischer Kraft die europäische Geschlechtsmoral verhöhnt. In dem überfüllten Saale war viel begeisterte Jugend anwesend, der Beifall stürmisch, der Enthusiasmus ehrlich. Für den Schriftsteller, der sich Feinde freudiger erwirbt als Freunde, bildete der interessante Abend eine Genugtuung.
f. a.
[Arbeiter-Zeitung, zitiert in: Die Fackel 303-304, 31.05.1910, 35-36] - zitiert nach Austrian Academy Corpus