In den bewegten Tagen des November 1918 hörte ich zum erstenmal eine Kraus-Vorlesung. [...] Wir hatten vortreffliche Sitze, ganz knapp vor dem Podium. Zunächst unterhielten wir uns mit Loos. Dann kam Kraus – und ich war sehr enttäuscht, nicht nur von seinem Äußeren. [...] Mir mißfiel die Stimme und das Pathos, mit dem er seine Gedichte las. Freilich, von der Satire „Wir sind ja eh die reinen Lamperl“, bei deren Vortrag er stellenweise unmerklich in den Ton eines Coupletsingers hinüberglitt, diesen ein paar Zeilen festhaltend, um dann plötzlich abzubrechen und im Sprechton fortzufahren – was eine kaum glaubliche Wirkung ausübte -, von allem dem war auch ich rückhaltlos mitgerissen worden. Unangenehm berührte es mich auch, wie nach Schluß der Vorlesung einige Frauenzimmer, die sich ans Podium gedrängt hatten, in buchstäblich hysterische Schreie ausbrachen und Kraus vor diesem Wahnsinn nicht sofort die Flucht ergriff.
[Ferdinand Ebner, Joseph Matthias Hauer, in: Lebenserinnerungen, Kapitel II, in: Schriften, Bd. II: Notizen, Tagebücher, Lebenserinnerungen, hrsg. von Franz Seyr, München 1931, zitiert nach: Friedrich Pfäfflin (Hg.), Aus großer Nähe. Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern, Göttingen 2008, 214]