Rezension der Grazer Volksstimme

Der zweite Kraus-Abend enttäuschte [...] die Ursache »Presse« für das Aussterben von Wald und
Schmetterlingen, die merkwürdig aufgeregte Entrüstung über die Bauernfeldpreisverteilung und viel Empörung über Dinge, die natürlich und klar sind; entweder der Pflicht des Journalisten oder den Wünschen der Leser entsprechen, die doch schließlich außer den Lehren von Karl Kraus-Größen auch ein wenig berücksichtigt werden möchten. Denn streng genommen, ist die Presse doch für die Leser da und nicht für die ‚Fackel‘? Aber wir wollen die Kraus-Parole, nur allgemein zu kritisieren, halten und erlauben uns einige — sogar naive — Bemerkungen: Die Frage, warum Karl Kraus denn in diesem geschmacklosen, unerträglichen, bornierten Dorfe Wien lebt, was er schreiben würde, wenn die Journalisten und Presse so wären, wie er es wünscht — wurde schon getan. Aber: Wenn die Journalisten »zu Banden organisierte Individuen« sind, die sich »unter sich einer Gaunersprache bedienen«, wenn sie interviewend ihre »schmutzigen Finger in das Fleisch ihres Opfers drücken und dies dann Eindrücke nennen« (die Bösen interviewten aber nicht Karl
Kraus), wenn der »Schönheit, Natur und Kunst« ein gebrochener Seufzer gewidmet, ein Sterbelied gesungen wird, weil die Presse sich ihrer »bemächtigte« — ja warum durfte denn diese selbe Presse Reklame für den Künstler Karl Kraus machen? Seine Vorträge ankündigen, immer wieder? Warum ließ dieser selbe presseverachtende Herr, der über die Journalisten so beleidigend und über »die«
Presse so höhnend loszieht, die Geschmacklosigkeiten aus acht Zeitungen abdrucken (in denen man ihn seit Nietzsche den Ersten und mit Goethe und Lessing in einem Atem nennt!!!)?? [...] Mehr belustigend als beleidigend für die Journalistik waren die begeisterten Bravorufe, wenn’s auf uns losging. Was dieselben Herrschaften aber für Skandale schlagen, wenn das Morgenblatt zum Frühstück zu spät kommt! Wie dieselben Menschen sind, wenn sie was von dieser Zeitung wollen oder — nicht wollen! Merkwürdig!

[Grazer Volksstimme, 06.03.1912, zitiert in: Die Fackel 345-346, 31.3.1912, 19-20] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Datum: 
06.03.1912