— — Daß seine vier Abende die Theatersaison aufwiegen, wäre kein hohes Lob, da diese Theatersaison nichts wiegt. Aber er nähm’ es mit jeder auf. Wenn er Dramatiker liest wie Nestroy, Hauptmann, Shakespeare, so ist das nicht Ersatz für die Bühne: sondern die Bühne mit ihrem gewaltigen Apparat ist ein unvollkommener Ersatz für die eine Stimme, die aus ihrer Fülle mühelos ganze Ensembles versieht. Ein unvollkommener Ersatz deswegen, weil selbst der bedeutendste Regisseur besonders günstige, also äußerst selten vorhandene Umstände nötig hat, um seinen Geist in sämtliche Spieler zu treiben, von denen ein einziger eine Szene zerstören kann: während Der hier Regisseur und sein Menschenmaterial in einer Person ist, eine addierte und multiplizierte Schöpferwollust verspürt und von dieser fähig gemacht wird, sich beflügelt über tote Punkte zu schwingen. — —
— — Und wenn man sich nachträglich, aus der Erinnerung, die Totalität dieses Sprechkunstwerkes, des schlesisch-mystischen .. wiederherstellt und mit dem ersten, dem wienerisch-drastischen, vergleicht und dazu das dritte, das klassisch-anklägerische, heranzieht: dann staunt man doch, wie nicht allein innerhalb jedes einzelnen jedes Teilchen blitzblank gegossen ist, sondern wie auch die Atmosphäre der drei Dramengebilde, die Aura der drei Dramenbildner unverwechselbar glänzt. Girardi, die Blüteperiode Brahms und das ganze große Burgtheater einer längst versunkenen Zeit: das alles hat ein unendlich musikalisches Ohr in sich eingefangen und gibt eine Kehle von unbegrenzter Ausdrucks-Stärke und -Feinheit zurück. — —
[Weltbühne, 16.05.1918, zitiert in: Die Fackel 484-498, 15.10.1918, 146] - zitiert nach Austrian Academy Corpus