Rezension des Frankfurter Generalanzeiger

Ein Vortrags-»Künstler«. Gestern abend produzierte sich ein geistiger Parterre-Akrobat und Gemütsathlet im »Frankfurter Hof« vor vielen leeren Stühlen. Es war der hinreichend unter seinem »Künstlernamen« bekannte Herr Karl Kraus aus Wien. Die Vorstellung, die er gab, lieferte das tiefbetrübliche Ergebnis, daß die Spur von Geist, die dieser Herr vielleicht einmal besessen, infolge von Kriegsdepressionen gänzlich verwischt wurde, daß andererseits die allgemein seelische Läuterung im Lande des Rheins und der Donau aber nicht vermocht hat, ihm den zum öffentlichen Auftreten gerade noch nötigen Geschmack einzuimpfen. Sonst hätte er nicht den Ehrgeiz nach dem traurigen Ruhm besessen, alles das zu verhohnübeln, was gerade in dieser Stunde jedem anderen heilig ist, sonst hätte er sich nicht über die Begriffe von Patriotismus, Vaterland und Begeisterung für eine gerechte Sache (Augusttage 1914), über Nibelungentreue, Germanentum in einer Art und Weise ausgelassen, die peinlich empfunden wurde. Sonst hätte er nicht ganze Gesellschaftsklassen mit den Kübeln seines sogenannten Witzes übergossen und nicht die Juden im Besonderen verspottet. Den Gipfel der Geschmacklosigkeit erstieg dieser Vortrags- künstler, als er Richard Dehmel in den Staub zerrte, einen unserer Dichter, der es vorzog, die Flinte mit dem Füllfederhalter und den Schützengraben mit dem von unseren Vaterlandsverteidigern auch geschützten Vortragspodium zu vertauschen. Hätte die Natur Herrn Kraus nicht das versagt, was ihn zum Kämpfer an der Front fähig machte, man müßte noch schärfer über diesen Heimkrieger urteilen. So aber muß man es seiner krankhaften Seele in einem kranken Körper zugute halten, daß sie Ventile für ihren giftigen Ausfluß sucht. Nur steht dazu das Pathos sehr schlecht, denn Herr Kraus schleudert seine lediglich aus Kladderadatschblüten bestehenden »Geistesblitze« unter die Zuhörer wie Zeus seine göttlichen Blitze vom hohen Olymp herunter unter die sündige Menschheit. O, könnte er sich auch wie Zeus in einen Stier verwandeln. Dann verstände man doch auch, warum so vieles in der Welt auf Herrn Kraus wie ein rotes Tuch wirkt, und warum er auf so gottverlassenen Triften grasen gehen muß. Schade um das schöne Pathos und den Stimmenaufwand eines so metallisch klingenden Organs. Das Metall des Vortrags aber — war Blech. c. m.

[Frankfurter Generalanzeiger, 14.02.1917, zitiert in: Die Fackel, 454-456, 01.04.1917, 33-34] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Datum: 
14.02.1917