— — — und kaum ein Stück ging ohne Beifall vorüber, der sich stellenweise sogar zu ungewöhnlicher Stärke verdichtete. — — — Humoristisches, besser: Satirisches — ja, gewiß, das haben auch Andere schon vom Podium aus vorgetragen; aber was hatte das alles zu tun mit dieser Satire, die Dolche und Damaszenerklingen lacht, und die zu AnkIagereden eines Weltrichters emporschwillt. Man denke nur an die ungeheure, hinreißende Steigerung in dem Stück »Die Schuldigkeit«, wo der Mühlstein gewissermaßen beschworen wird, daß er seine Schuldigkeit tue. — — — Furchtbar strafte das Stück »Wahrung berechtigter Interessen«. — — Zu einem unerhörten, wutbebenden j’accuse gegen die Justiz wird das unter der Feder und aus dem Munde von Karl Kraus. — — Als wollte er die ganze weiße Kulturmenschheit zerfleischen, so schrillt’s und faucht’s und tobt’s, wenn Kraus von der Behandlung der Neger in Wien erzählt. Geradezu harmlos, fast freundlich-scherzhaft nimmt sich neben solchen Plaidoyers für die Mißhandelten und Mißachteten eine Attake gegen Maximilian Harden, den Schriftsteller mit der »Desperanto«-Sprache aus, oder »Der Traum ein Wiener Leben«, in dem die dichterische Phantasiekraft des Wieners vielleicht am stärksten und einleuchtendsten zum Bewußtsein kam. Das Schema der Polemica ist vielfach das, daß Kraus erst ganz sachlich Zeitungsmeldungen oder auch Inserate zusammenstellt; schon wie er dies tut, und wie er sie liest, wirkt wie Florettstiche. Dann kommt der Kommentar, erst auf den Ton des Verhöhnens, des Ironisierens gestimmt, dann immer mehr aus dem Einzelfall auf das Allge- meine ausgreifend, bis dann schließlich das Schaffot fertig ist, auf dem die oder jene Institution, der oder jener Moralsatz, die oder jene Geistes- und Seelenverfassung mit dem Pathos des in seinen tiefsten Tiefen verletzten Rechts- und Wahrheitsgefühls hingerichtet wird — ein literarisches Scharfrichtermetier, das Grauen weckt [...].
Karl Kraus stellt alle schauspielerischen Künste in den Dienst seines Vortrags. Ein Wiener Bühnenkünstler erzählte mir vor einiger Zeit, die Schauspieler besuchten die Vortragsabende von Kraus in Wien aus eigentlichem Fachinteresse. Dieser lesende Publizist kann wirklich genauestes Studium erworbener Kunst. Diese Kunst ist sicherlich bewundernswert, gerade wie die Beredsamkeit des spärlich angebrachten, aber bis ins letzte genau auf die Wirkung berechneten Akkompagnements der Hände, wie die Haltung des Körpers, die Stellung des Kopfes, die Bewegungen, die über das Gesicht laufen. Aber, offen gestanden: diese ganze Kunst empfand ich doch nur als eine Kunst der Inszenierung; und diese Inszenierung könnte ich mir weit einfacher, innerlicher, diskreter vorstellen, und ich glaube nicht, daß dadurch Wesentliches vom Inhalt des Gelesenen verloren ginge. Im Gegenteil: das innere, seelische Erlebnis, aus dem heraus diese Polemiken und Invektiven und Anklagen geboren und künstlerisch geformt sind, würde wohl ein noch stärkeres Echo beim Hörer finden.
[Neue Züricher Zeitung, 17.02.1914 zitiert in: Die Fackel, 395-397, 28.03.1914, 43-44] - zitiert nach Austrian Academy Corpus