Vergangenen Dienstag stellte sich uns im Künstlerhause ein Wiener vor, den wir bald als anregenden Plauderer und sinnigen Spötter kennen lernten. Seine erste Vorlesung Der Traum, ein Wiener Leben, erinnerte im Aufbau mit seinen grotesken Formen an Ettlingers Fräulein Tugendschön. Für den, der die österreichischen Verhältnisse nicht genau kennt, war es schwer, Karl Kraus durch seine wüste Traumphantasie zu folgen. Hinter einem scheinbar grausigen Wirrwarr verbarg sich aber grimmiger Spott. Auch über das Reklameunwesen hatte er seinen beißenden Hohn ergossen und all die Schlagwörter zu einer großen Groteske zusammengeballt. Im zweiten Teil seines Vortragsabends tischte uns der Herausgeber der Wiener Fackel allerhand Geschichten und Geschichtchen auf, satirische Randglossen zu den Schwächen unserer Zeit. Es war ein Genuß besonderer Art, dem mutigen Bekämpfer der heutigen Unvernunft in seinen Vorträgen zu folgen. Reicher Beifall belohnte ihn, besonders dann, wenn er weniger österreichische als allgemeine Mißstände geißelte. K.-H. G.
[Dresdener Anzeiger, 27.11.1913, zitiert in: Die Fackel 389-390, 15.12.1913, 24] - zitiert nach Austrian Academy Corpus