Rezension der Wiener Mittagszeitung

(Vorlesung Karl Kraus.) Es war nicht die erste. Vielmehr in dieser Saison allein bereits die fünfte, die der streitbare Satiriker als Gast des akademischen Verbandes gehalten hat. Die ungewohnte Methode dieser Veranstaltungen, die sich sozusagen lediglich von innen heraus vollziehen, hat bis jetzt die Presse auch als Referentin ferngehalten. Heute, da diese Rezitationen zur Institution geworden sind, wäre ein weiteres Schweigen deplaciert. Schon der unleugbar eminenten künstlerischen Bedeutung dieser Abende gegenüber. Denn Karl Kraus, ob er nun, wie in der ersten Hälfte des letzten Abends, fremdes Gut gibt (diesmal war es ein wundervoller Einakter Nestroys, ein Exempel fast tragisch weisen Spottes und beißender Menschenkenntnis), ob eigenes, liest famos und weitaus besser denn ein Virtuose. Eine subjektiv durchgeistigte Vollendung der Technik läßt alle Register spielen, so oft Gefühl und Nerv das Kommando geben. Vom bitter melancholischen Sarkasmus bis zum schmetternden Zorn. Wie gespenstisch tauchen Einzelheiten auf, die an bekannte lebende und tote Meister der Vortragskunst gemahnen. Am ehesten nähert sich zumal sein greinend-vergnügter Nestroy-Ton der Urwüchsigkeit Girardis. Nicht im Sinn der Imitation, sondern in dem einer geistigen Verwandtschaft der Anschauung. Wenn er liest, scheint die Welt für ihn versunken. Hinter dem Lesetisch, von dem eine einsame Lampe in den verdunkelten Saal blitzt, zuckt in geisterhaftem Spiel, in einem Hexentanz der Vergeistigung sein Antlitz. In der gestaltenden Symphonie seiner Miene, seiner Deklamation lebt sein geschriebenes Wort neu und oft weitaus stärker auf. Neben der Lust auch das Leid der Zeugung, neben der höhnischen Lache der heilige Zorn. Durch die grimassierenden Züge manch kleiner Glosse leuchtet die Qual der Empfängnis. Ihr Spiel ist Maske, ihr Hohn Trauer, ihr Lachen über die großen und kleinen Schmählichkeiten der Ausfluß eines rührenden Weltschmerzes, eines Pessimismus unerfüllter idealer Forderungen. Dieser stets berauschte Dionysier künstlerischer Zeugungsorgien erlebt im Lesen nochmals das Lebendigwerden der Form, ihre Befreiung aus den Schlacken des Zweifels. Und der Hörer erlebt dies mit, und mehr noch, er fühlt den Atem eines Stils, der von der strahlenden Kraft, der großen Gebärde und dem klaren Pathos deutscher Prosa meisterlich zu zeugen weiß, erst jetzt voll und bezwingend. Kraus’ Essays und Glossen sind auch als Rezitationsstücke vor allem Wunder der Sprache und erst in zweiter Linie, als Produkte sprachlicher Schöpfungslust, Gefäße ethisch-satirischer Tendenz, Spiegelungen eines Weltbildes. In dem leider Presse und Publizistik als rein zersetzende Faktoren erscheinen. Diese merkwürdige Perspektive eines, der durch Beschränkung genial, durch Einseitigkeit stark und seherisch ist, diese Verschiebung von Ursache und Wirkung, diese Ineinanderfügung von Sachen und Personen und vor allem diese harte Verkennung dessen, was für die Ewigkeit wertlos, für den Tag sehr wohl wertvoll, wenigstens notwendig sein kann, die Beschaffenheit der Maßstäbe mit einem Wort, wie die Lust an der Degradierung einer aus praktischen Gründen stereotypen und phrasenhaft nüchternen Arbeitsmethode, die Weigerung, manchen imponderabilen Faktoren dieser ihm feindlichen Welt Rechnung zu tragen, verstimmt den ehrlichen Journalisten mit Recht. Aber er wird sich sagen müssen, daß das Urteil über diese Kontroverse einer späteren Generation gebührt und er selbst nur registrieren darf. Über seinen Unmut hinaus wird ihn als Hörer dieser Vorlesungen Achtung vor dem zähen Kampf dieses Mannes gegen Korruption und Beschränktheit, gegen Phrase und Dummheit erfassen; Respekt vor dem Können eines im Sprachlichen Schöpferischen, im Gedanklichen Eigenen, eines geistigen Selfmademans von titanischer Sucht, mit sich und der Welt im Disput zu stehen.

[Wiener Mittagszeitung,  25.05.1912, zitiert in: Die Fackel 351-353, 21.6.1912, 51-52] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Signatur: 
L-137743
Datum: 
25.05.1912