Rezension der Teplitzer Zeitung

.... Am Vortragstisch saß, wie weit entrückt, Karl Kraus. Bedächtig, professoral, leidenschaftslos begann er die Groteske »Der Traum ein Wiener Leben« zu lesen, immer leb- und leibhaftiger werdend, bis er am Ende wie ein losspringender Tiger in langgestreckten wuchtigen Sätzen über die künstlichen Frisuren und glatten Köpfe, über Straßen und Plätze hinwegzurasen schien, von einem Fiebertraum durchschüttelt. Dann las er mit einer Virtuosität sondergleichen die Kapitel »Der Biberpelz« und »Die Welt der Plakate«, seine wundervolle Kunst sorgsam nachgestaltend, bald mit feinster Ironie Trivalitäten des Alltags verspottend, bald vom Ekel vor der täppischen Überlegenheit des Hundsgemeinen übermannt und einen leisen leidenschaftlichen Donner in der Stimme. Als er dann »Die chinesische Mauer« las, schien er selbst unter der Wucht dieses grandiosen Kunstwerkes zu verschwinden, entrückt den kleinen marternden Boshaftigkeiten des Alltagslebens, ganz hingegeben einem Problem, das ihn, der es schon so oft erlebt hatte, fast zur Raserei trieb und vor den Blicken der erstaunten Leute zu einer Größe emporwachsen ließ, die nur der kleinste Teil des Publikums zu übersehen vermochte. Die anderen schlossen ohnmächtig die Augen oder sagten Pfui. Denn es waren Worte gefallen, die vor der Gesellschaft nicht ausgesprochen werden dürfen. Einige Leute verließen sogar den Saal. Da erwachte Karl Kraus und las voll geheimer Freude »Das Ehrenkreuz«, dieses Meisterstück verwirrender Wortkunst. Das Publikum war aufgestanden, umdrängte ihn, hing an seinen Lippen und bei der Stelle: »Wenn ein Mädchen zur Ausübung der Prostitution befugt ist, so könnte es vorkommen, daß sie es verschweigt und schwindelhafterweise angibt, sie sei zur Ausübung der Prostitution nicht befugt. Sie würde sich also einen unsittlichen Lebenswandel anmaßen, den sie nicht deshalb führt, weil sie dazu befugt ist, sondern den sie führt, wiewohl sie dazu nicht befugt ist, während sie in Wahrheit bloß befugt ist, einen unsittlichen Lebenswandel zu führen, den zu führen sie befugt ist«, schüttelte sich die Menge vor Lachen und die jungen Mädchen ließen ihre Augen aufleuchten. [...] Dieser kleine nervöse Mann ist ein zu großer Künstler, um beliebt werden zu können. Wohl waren die Grazien an seiner Wiege; aber nicht die schlamperten Frauenzimmer, die schmiegsamen Feuilletonisten ein leichtes Herz und eine leichte Hand bescheren, sondern die Grazien des Teufels, die ihn mit einer wunder- vollen Form bedachten, damit er umso schmerzlicher die Unform der Welt empfinden müsse. Hier hat es sich begeben, daß Einer mit seinem Stil ein tragisches Geschick meisterte. Und man wird einmal einsehen, daß die berüchtigte Boshaftigkeit des Künstlers Karl Kraus nichts anderes war, als sein Abscheu vor der Boshaftigkeit seiner Mitmenschen. L. W.

[Teplitzer Zeitung,12.12.1911, zitiert in: Die Fackel 339-340, 30.12.1911, 24-25] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Datum: 
12.12.1911