Karl Kraus aus Wien, der Fackel-Kraus, von dessen eigenartigem Schaffen und Wesen wir unsere Leser nicht ungern wiederholt unterrichtet haben, las am Donnerstag im Kunstsalon Cassirer Aphorismen und Satiren vor. Die sehr elegant in Stahl gearbeiteten Gedanken des Wiener Gastes, lauter mit Dynamit gefüllte Kunstwerke, wirken vom Katheder aus nicht mit der dämonischen Gewalt, die sie auf den Leser ausüben. Nur die gröberen, die handgreiflichen Pointen zünden, und das ist in unserem Fall schade, weil sie kein klares Bild des Verfassers geben. Dieser kluge Kopf muß, zumal für die Zwecke seiner Vorlesungen, die Gesetze der Bühnenoptik noch genauer studieren. Im Lampen- und Rampenlicht, vor einem Parkett, wirkt nur der sinnfällige, bunt aufgeputzte, nie der innere Witz. — Lebhafteren Anklang fanden denn auch zwei leicht verständliche Satiren: eine reichlich boshafte, wenn auch vielleicht nicht hinreichend wuchtige Verhöhnung der Fortschrittsmeierei und eine lustige Attacke auf die großstädtische Plakatwut. Völlig in seinen Bann riß Kraus die Hörer dann mit seinem gefährlichen, starken und glitzernden Pamphlet von der chinesischen Mauer! Man kann die Prämissen und Folgerungen des Verfassers durch die Bank ablehnen; kann seine heinische Meinung, daß das Christentum an der Unterdrückung und Verdunkelung des gesunden Liebesinstinkts schuld sei, als unwissenschaftliches Paradox ablehnen (schuld ist die Entartung der Rasse durch die Stadtkultur und die Entwöhnung der Menschen von adeligem Menschen- und Männerwerk) — man kann, wie gesagt, ein grundsätzlicher Antipode des Vortragenden sein, und muß seiner wahrhaft bezwingenden Stilgewalt doch herzliche Bewunderung zollen. Kraus ist ein ebenso kluger wie inniger Vorleser; er beherrscht den Gedanken wie die Technik, ihn durchs gesprochene Wort zu gestalten. (Was man bei guten Schreibern bekanntlich sehr, sehr selten findet.) Die Stunde, die uns der Wiener geschenkt hat, ist eine der inhaltreichsten und kunstschönsten des Winters gewesen.
[Deutsche Tageszeitung, zitiert in: Die Fackel 294-295, 31.01.1910, 37] - zitiert nach Austrian Academy Corpus