Im Verein für Kunst las gestern abend Karl Kraus, der bekannte Wiener Publizist, eine Reihe von Aphorismen vor, die zwei jüngst erschienenen Bänden (?) entnommen waren. Es ist nicht so ganz leicht, eine große Anzahl Aphorismen hintereinander zu hören, selbst wenn sie zum größten Teile frappant und geistreich sind, gut vorgelesen werden und die Sinnesart eines ungewöhnlichen Mannes in sprunghaften Reflexen zu enthüllen scheinen. Wie Bälle, die man nicht zurückwerfen kann, füllen sie uns die Arme; aber wenn man später zusieht, sind die meisten auf rätselhafte Weise wieder fortgeflogen. Indessen kommt es gerade hier nicht auf die Menge an, und einzelnes — wie die Vergleichung des Künstlers, der Konzessionen macht, mit einem Menschen, der seine Sprache in der Fremde gebrochen redet — hakt sich trotz allem in der Erinnerung fest. Natürlich war man neugierig, zu vernehmen, was der Vorleser über die Frauen sagte; und wenn er feststellte, daß alle Berliner gehen und alle Wiener stehen, und diese Beobachtung satirisch abwandelt, so war er heiterer Aufmerksamkeit sicher. Eine Wendung zum Elegischen, zum Lyrischen fast, war in dem kleinen Prosagedicht vom Aussterben der Schmetterlinge nicht zu verkennen. Jedenfalls hatte man eine interessante Bekanntschaft zu verzeichnen.
[Der ‚Berliner Lokal-Anzeiger‘ und der ‚Tag‘, zitiert in: Die Fackel 294-295, 31.01.1910, 30] - zitiert nach Austrian Academy Corpus