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THEATER DER DICHTUNG
Perichole
Operette in drei Akten (fünf Abteilungen) von Jaques Offenbach
Neuer Text (nach zwei Fassungen von Henry Meilhac und Ludovic Halévy) von Karl Kraus
Musikalische Einrichtung und Begleitung: Franz Mittler
Zum erstenmal aufgeführt im Théâtre des Variétés am 6. Oktober 1868, in der zweiten Fassung am 25. April 1874
Personen:
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In der Übersetzung von Richard Genée zum erstenmal im Theater an der Wien am 9. Januar 1869, in der zweiten Fassung am 25. April 1878 (mit Fräulein Geistinger und Fräulein Tellheim als Perichole und den Herren Swoboda als Piquillo, Friese und Girardi als Don Andrès; das erste Mal mit Rott als Don Pedro, das zweite Mal mit den später berühmt gewordenen Sängern Schrödter und Lieban in den kleinen Rollen der Notare).
Zeitstrophen zu dem Couplet »Inkognito«, zu dem Lied »Die Frauen! die Frauen!« und zu dem Bolero »Wir Gatten beugten stumm die Rücken«.
Nach der zweiten und nach der dritten Abteilung eine Pause.
Schwechten-Flügel
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Notizen des Wiener Programms:
Keines der Offenbach’schen Werke — nicht einmal »Die Seufzerbrücke« — hat den Bearbeiter vor eine ähnliche Schwierigkeit gestellt; keines aber auch dermaßen die Mühe gelohnt, zu dem Ziele der Bergung einer verschollenen Kostbarkeit zu gelangen. Die Kompliziertheit der Aufgabe, an einem Material von äußeren und inneren Bruchstücken zu arbeiten, muß sich auch in der Darstellung all dieser Umständlichkeiten ausdrücken. Aus zwei Fassungen von »La Périchole«*), die vorlagen, schien es zunächst unmöglich, den ganzen musikalischen und textlichen Wertbestand festzustellen. Die erste Fassung (in zwei Akten, drei Abteilungen) wurde in Paris 1868, die zweite (in drei Akten, vier Abteilungen) 1874 aufgeführt; in Wien, in der Übersetzung von Richard Genée, 1869 und 1878. Von der Musik war zunächst nur ein Klavierauszug der ersten Fassung vorhanden, dem ein einziges Lied aus der Kerker-Szene der zweiten (Tu n’es pas beau, tu n’es pas riche) beigefügt ist. Vom Text: das französische Original der zweiten Fassung (bei Calman-Lévy 1924) und eine Übersetzung der ersten von L. Kalisch (Ed. Bote & G. Bock 1870). Diese beiden Texte haben als Grundlage der neuen Bearbeitung gedient, welche sich für etliche Dialogstellen und szenischen Motive, die in der zweiten französischen Fassung nicht vorkommen, auf die Übersetzung von Kalisch stützen mußte und von ihr auch zwei glückliche Wendungen der Brief-Arie (siehe »Worte in Versen« IX) etwas verändert übernahm. Sonst entsprechen die Gesangstexte dieses Buches nicht einmal dem äußerlichen Erfordernisse rhythmischer Deckung, während freilich der Dialog hoch über dem Niveau der Berliner Offenbach-Texte steht. Die Wiener Übersetzung (beider Fassungen) war mit Ausnahme einiger Gesangsstücke in keinem Archiv aufzufinden. Da aber die von Kalisch die dramaturgischen Schwächen des ersten französischen Originals durchaus fühlbar macht, so wurde auch für die Einrichtung im Wesentlichen nur das zweite herangezogen. So wertvoll nun dessen Bereicherung um die Kerker-Szene erscheint, die Fehler — eines hypertrophischen ersten Aktes und eines allzu beiläufigen Abschlusses — sind auch hier vorhanden, wozu noch der peinliche Ausklang der Kerker-Szene kommt. Es blieb nichts übrig, als das zweite französische Original — mit der gänzlichen Neudichtung der Gesangstexte — in freier dialogischer Übersetzung stellenweise umzuformen. Was da zunächst unerläßlich war: die Überfülle des ersten Aktes theatermäßig zu teilen, geschah so, daß nunmehr die erste Abteilung mit der berühmten Brief-Arie (versifiziert nach dem Brief der Manon bei Prévost, eine Partie, der in Offenbachs Schöpfung nur noch der Metella-Brief oder das Lied des Fortunio nahekommt) ihren Abschluß findet. So wird eine Atempause ermöglicht, die das im Orchester fortgespielte Motiv ausfüllt. Es bricht ab, wenn vor der in Gedanken versunkenen Perichole der Vizekönig, mit dem Geldbeutel in der Hand, auf der Schwelle des Pavillons erscheint; die Schicksalswende ist vollzogen, und nun erst setzt — nach der grotesken Rettung des Selbstmörders Piquillo — die eigentliche Operettenhandlung ein, als jener Genieeinfall, der die Bühne mit dem Rausch aller Beteiligten förmlich überschwemmt. Dem dramatischen Fehler der zerflatternden Hofhandlung hatten die Autoren durch die reizvolle Kerker-Szene nur unvollkommen abgeholfen, deren operettenwidriger Ausgang geändert werden mußte, gleich der ganzen letzten Abteilung, welche jene, anstatt bei Hofe, auf dem Schauplatz des Anfangs, vor der Schenke der drei Cousinen, spielen ließen und die dramatisch kaum gelungener war als der Schluß der ersten Fassung. Das Wunderwerk ist seiner unglücklichen szenischen Struktur, die auch dem Zauber des Milieus und dem vielfältigen Reiz der textlichen Einfälle entgegenwirkte, zum Opfer gefallen. Trotz den Qualitäten des Buches, die natürlich alle Manufaktur späterer Librettisten aufwiegen, ist hier Offenbach mit einer Schöpfung, die ihm so sehr am Herzen lag, an seinen Autoren gescheitert, die immer wieder — was auch das aufgefundene Beiwerk von Arien beweist — vergebens versucht haben, die musikalische Pracht zu rehabilitieren. Der Bearbeiter, der namentlich an die Übersetzung und Anpassung der Verse eine ähnliche Arbeit wie an den Text der in Rang, Stil und Handlung ähnlichen »Madame l’Archiduc« gewandt hat, hofft, durch die Verteilung des dramatischen Gewichts und namentlich durch die Belebung des letzten Bildes, das er im Vorhof des Palastes spielen läßt: mit dem Auf und ab der Patrouillen und der Entflohenen, das Werk für die Bühne gerettet zu haben — ganz jenseits der Gewißheit, daß nunmehr der Einklang von Vers und Musik ein dramatisches Element bildet, wie es die Sprache des Originals viel leichter bereitstellt und das den früheren deutschen Texten durchaus gemangelt hat. Die Schwierigkeit wurde hier noch durch den Umstand erhöht, daß der Text des Klavierauszugs vielfach nicht mit dem der Buchausgabe von 1924 übereinstimmt. Es würde ein Kapitel sprachkritischer Betrachtung ausfüllen, wollte man nur die Veränderung darstellen, die ein aus dem Buch übersetztes Gedicht durch die Entdeckung erfuhr, daß Offenbach statt der motivisch wiederkehrenden Zeile: »Ma femme, avec tout ça, ma femme« bloß ein wiederholtes »ma femme, ma femme« (als schönsten musikalischen Seufzer) komponiert hat. Die musikalische Bearbeitung hat die zweite Fassung um Partien der ersten, die nicht übernommen waren, bereichert, was durch die szenische Neugestaltung ermöglicht war oder diese beeinflußt hat. In der zweiten Fassung hat Offenbach das einzigartige Finale der nunmehrigen dritten Abteilung, das auf der Spaltung des Wortes »ré-cal-ci-trant« aufgebaut ist, noch durch eine rhythmische Verschiebung des Motivs (aus dem Walzer in einen Cancan) verstärkt. Die auf dieser zweiten Fassung beruhende Bearbeitung war vollendet, bevor man mehr als den Klavierauszug der ersten und einige aus dem zerstörten Archiv des Theaters an der Wien in die Nationalbibliothek (Albertina) gerettete musikalische Reste vor sich hatte. (Zunächst fand sich dann im Besitz eines französischen Sammlers ein Exemplar der ersten Fassung in einer Ausgabe, die eine Szene des als Juwelier verkleideten Vizekönigs enthält, deren dramatische Bestimmung sich nicht ermitteln ließ.) Der Klavierauszug der zweiten Fassung, auf die es wegen des schon übersetzten Kerker-Bildes ankam, schien verschollen — weder in Wien noch in Paris gelang es ein Exemplar aufzutreiben —, bis ein freundlicher Helfer ein schön erhaltenes Unikum feststellte, das die Berliner Staatsbibliothek besitzt. (Der Pariser Verlag besteht längst nicht mehr.) Ohne diesen Fund hätte man auf die herrliche Musik der Kerker-Szene verzichten müssen, mit Ausnahme des einen Liedes, das der alten und noch vorrätigen Fassung beigefügt ist, und einiger Stellen, die durch Stimmen rekonstruierbar waren, wie sie der musikalische Bearbeiter, Franz Mittler, in dem heillosen Kunterbunt des Wiener Archivs auffand. (Von dem Beiwerk, das da noch brachliegt, könnten hundert Musikdiebe leben, die aber nunmehr ertappt würden.) In Wien, wo eine planvolle Strategie zur Verwüstung von Schätzen und Dokumenten einer alten Theaterkultur gewaltet zu haben scheint — während man drauf und dran ist, den wiedergeborgenen Offenbach zu schänden —, waren nicht einmal die Theaterzettel der Erstaufführungen aufzutreiben, so daß nur eine unvollständige Rekonstruktion aus alten Zeitungsnummern möglich war. Wahrlich »verklungen und vertan« wäre diese ganze Herrlichkeit, von der Herr Korngold behauptet, daß sich Wien immer zu ihr bekannt habe, »hinter dessen Rücken« sich die deutschen Offenbach-Schändungen abspielen —; verklungen und vertan wäre sie, wenn nicht solche Mühe aufge- wendet wäre: mitten in Wien hinter dessen Rücken!
*) »Comment prononcer le mot Périchole? Meilhac voulait qu’on prononçât le ch comme dans ‚écho‘.« (Louis Schneider)
[Jugendbildnis Offenbachs (Aus der Biographie von Anton Henseler)]
Aus einem Aufsatz der ‚Breslauer Neuesten Nachrichten‘ vom 4. Dezember:
Karl Kraus liest Offenbach.
Unseren Bühnen gilt Offenbach als ein etwas unzeitgemäßer, doch angenehm prickelnder Kuriositätsreiz, den man nur durch gewitzte Bearbeitungskünste, durch ein Drumherum von Technik, Betrieb und Klamauk auf die Höhe heutigen szenischen Komforts bringen könnte. Das Unternehmen, Offenbach zu bringen, gelingt diesen Bearbeitern, Jazzarrangeuren und Ausstattungschefs mit dem völlig beruhigenden Resultat, ihn umgebracht zu haben. Worauf man guten Gewissens zu Lehar und Kalman zurückkehrt — —. Die Geschaftlhuber einer Offenbach-Renaissance, von der sie hatten läuten hören, bewiesen nur, wie sehr Offenbach wirklich tot sei. Ihr Wiederbelebungsversuch war Leichenschändung. Ihnen war Offenbach gestorben, ihnen blieb er tot.
Aber was läutete, was tönte denn so stark, daß sogar die Routiniers des Theatergeschäfts aus ihrem gesunden Schlaf aufgestört und zu jenen verzweifelten Faxen animiert wurden? Von welcher Renaissance klangen ihnen die Ohren so lange, bis sie ihrerseits sich zur Fehlgeburt entschlossen? Wahrhaftig, ein Wunder war geschehen. Derselben Zeit, deren natur- und geistverlassene Bühne Offenbach in Grund und Boden verfälschen mußte, wenn sie überhaupt an ihn herangelangen wollte, derselben Zeit stellte sich Jahr um Jahr in Sachen Offenbachs das grandioseste Schauspiel einer künstlerischen Ehrenrettung dar, das je in großer Sache gewagt worden war. — — Kein Musikfachmann verhalf zu dieser Besinnung auf die musikalischen Wunder der Offenbach-Welt, kein Bühnenleiter entdeckte diese Schätze eines Theaterreichtums, an dem eine Menschheit gesunden konnte. Eine bessere Erkenntnis als diejenige dürftigen spezialistischen Kennertums, ein besserer Blick als der aus der Kulissenperspektive traf auf das wahlverwandte Genie: Karl Kraus entdeckte Offenbach. Das hätte bei gleicher Erkenntnis und gleichem Blick, doch anderen Gaben noch immer bloß eine theoretische Entdeckung bleiben müssen, indem es sich etwa darum gehandelt hätte, daß ein großer Schriftsteller und Kulturkritiker an eklatantem Exempel die Kulturverödung der Zeit nachwies. K. ist der große Schriftsteller und der Nachweis gelang ihm bis in die letzte Konsequenz. Aber die allerletzte konnte doch nur er ziehen, nämlich die Konsequenz der Tat. Weil K. nicht nur der große Schriftsteller, sondern auch der große Künstler des darstellenden, lebenzeugenden Wortes ist.
Die Bühnen spielen Offenbach nicht. K. spielt ihn, wie er Nestroy gespielt hat, wie er von Shakespeare bis Hauptmann und Wedekind ein wundervolles »Theater der Dichtung« verwirklicht hat, dessengleichen kein Theater der Zeit und Zeitgemäßheit zu bieten vermöchte. Ich will nicht die ganzen kritischen und ästhetischen Grundlagen rekapitulieren, mit denen K. seine großartige Offenbach-Renaissance fundiert hat. Davon war hier wiederholt die Rede, in meinem Aufsatz »Falsche Offenbach-Renaissance« und in mancherlei sonstigen Bemerkungen, die zur Kulturverlassenheit der heutigen musikalischen Bühne gemacht wurden. Ich will nur von dem Phänomen einer Kraus’schen Offenbach-Aufführung sprechen, dessen Erlebnis uns jetzt endlich die Volksbühne auch in Breslau vermittelt hat.
K. brachte »Die Schwätzerin von Saragossa«, ein Mantel- und Degenstück in spanischem Milieu, ein bezauberndes musikalisches Lustspiel mit einem bezaubernden Text nach Charles Nuitter von Carl Treumann, den K. mit feinstem Instinkt für Geist und Atmosphäre der alten Wunderwelt bearbeitet hat. — — Das Ohr schwelgte wahrhaft in künstlerischen Wonnen. Aber war, was K. bot, denn nicht bloß eine Vorlesung? Es war wirklich bloß eine Vorlesung. Nur daß keiner Bühne heute dieser Reichtum an Farben, diese sinnliche Vielfalt, diese leuchtende Theatermagie erreichbar wäre, die dort ein Vorleser aus einem Buch erstehen ließ. K. ist nichts weniger als ein Tenor und ein Sänger, aber er ist jede Stimme, die Offenbach seinen Geschöpfen lieh, um sie in Lust und Laune, in Anmut und Drolerie, in lyrischer Gehobenheit und groteskem Tölpelschritt wandeln zu lassen. Die Gesten, das Mienenspiel, mit denen K. seinen Vortrag stützt, erschaffen eine glaubhaftere Szenerie, als sie die besten Kulissenkünste zuwege brächten. Der Vortrag aber wird leibhaftigere Figur als ein noch so prominenter Tenorbauch hinzustellen vermöchte. Wie aus solcher Figur das ganze Figurenwerk des Ensembles zauberhaft ins Rampenlicht tritt, wie dieses Gesicht sich nicht zu verstellen braucht und doch alle Gesichter darstellt, wie dieser Ton eigenster Karl Kraus- Ton bleibt und doch jeden Charakter prägt: das ist durch keine Kunst- fertigkeit zu erklären, das ist das Geheimnis tiefster schöpferischer Ver- wandlung, vergleichbar nur den größten Erlebnissen großer Bühnenkunst. Vergleichbar nur den größten Erlebnissen musikalischer Beglückung aber auch die vollkommene Kongruenz, in der die mimisch-sprachliche Gestaltung sich mit dem Ausdruck der Musik deckt.
Der Nichtmusiker K. musiziert nicht mit dem Kehlkopf, sondern mit dem Geist, der, wenn irgendwo, so bei Offenbach das einzig richtige Instrument ist. Mehr noch als der allerdings meisterhafte, ganz und gar unvergleichliche Couplet-Vortrag spricht für K., wie er auch die lyrischen Augenblicke in reinster Musikalität aufglänzen läßt, wie er jedes Stimmungselement der wechselnden Szene musikalisch akzentuiert. Aus aller rhythmischen Pracht, aus aller geschmeidigen Anmut, aus aller schäumenden Lust dieser Musik ersteht erst in solcher Interpretation das echte geistverklärte Bild Offenbachs. Daß er es uns wiedergeschenkt hat, macht K. zu den größten Wohltätern der heutigen Menschheit. Ein Wort noch über die Kraus’schen Zusatzstrophen der Couplets. Sie sind natürlich nur in seinem Munde möglich und nicht für die Bühne gedacht. Aber sie haben nichts mit der kalauernden Aktualität gemein, die bei solcher Gelegenheit Bühnentradition ist. Sie sind eine Begegnung des »größten satirischen Schöpfers aller Zeiten und Kulturen«, wie K. Offenbach einmal genannt hat, mit dem großen satirischen Wortschöpfer unserer Tage. Ein faszinierender Einklang, bei dem Offenbach ebenso viel von Karl Kraus, wie Karl Kraus von Offenbach empfängt.
Ein unvergeßlicher Abend. Unvergeßlich auch durch die Bereitschaft des Publikums, sich jeder Verzauberung dieser großen Kunst vorbehaltlos hinzugeben. Einen solchen Rausch von Beglückung hat man selten erlebt. — — Paul Rilla.
An dem gleichen Tag erfolgte in Wien auf die Klage eines Musikfachmannes die bezirksgerichtliche Verurteilung des Vortragenden, über welche die Arbeiter-Zeitung einen Bericht erscheinen ließ, der die Kompetenz des Klägers wie folgt verteidigte:
Er schreibt ein sachliches Referat, das eine berechtigte Überzeugung mit guten Gründen vertritt — —
Sie hatten gelautet:
— — Der Musiker hört schon nach wenigen Takten, daß dem Vortragenden die Fähigkeit fehlt, Melos und Rhythmus durch seinen Gesang auszudrücken. — — So ist der rein musikalische Eindruck sehr dürftig. — — Offenbach schreibt für Orchester .. jedes Instrument ist durch seinen Klang für die musikalische Wirkung unentbehrlich, ebenso die Szene, ohne die jede dramatische Musik fast unverständlich wirkt. Daß Kraus gegen den Kitsch und den Flitterkram der Operette kämpft .. erkennt jeder geistige Mensch freudig an. Daß er jedoch durch die Verunstaltung der Musik, die er ihrer eigentlichen Ausdrucksmittel beraubt, dem wichtigsten künstlerischen Element der Offenbach-Operette nicht gerecht wird, darf nicht übersehen werden. — — Das Experiment ist sicherlich ungemein anregend, hat aber mit der Musik, wie sie der Komponist formte, nichts zu tun. Der Schwerpunkt verschiebt sich bei Kraus vom Musikalischen zum Literarischen. Dafür spricht auch, daß die rein lyrischen Stellen, die gerade Offenbachs Kunst am stärksten enthüllen, gegenüber den meisterhaft vorgetragenen Couplets fast unbeachtet bleiben.
— — Offenbachs Musik ist und bleibt lebendig, aber nur im Orchester und auf der Bühne, für die er sie geschrieben hat, nicht am Vorlesetisch, wo Offenbach von Karl Kraus verdrängt wird.
Der Fachmann (der für die Wiener Sozialdemokratie das Amt hat, Kitsch und Flitterkram der Operette mit allen Klischees bürgerlicher Berichterstattung anzupreisen, und als Korrespondent eines Berliner Hakenkreuzlerblattes revolutionäre Musik unbesprochen läßt) war enttäuscht, statt der Bühnendekoration einen Tisch und statt des Orchesters ein Klavier vorzufinden. (Offenbach wäre bloß überrascht gewesen.) Die Arbeiter-Zeitung hat, wiewohl sie öfter meine Verdienste darin erblickt hatte, die Autorität des gedruckten Wortes als Dreck zu erkennen, mit dem bürgerichen Richter bei Bemessung der Strafe als erschwerend angenommen, »daß der Privatkläger als Musikkritiker geradezu eine öffentliche Stellung bekleide«. Ich entkleide viele öffentliche Stellungen. Ist, was in Breslau erschien, wirklich bloß Satz für Satz die Antwort auf die Wiener Kläglichkeit? oder bedeutet es die unheimliche Deckung der Kontraste, die es nur an meiner Front gibt? Was die Arbeiter-Zeitung betrifft, die sich selbst immer größere Schmach antun muß, um zu einer Genugtuung zu gelangen, so war der einzige wahre Satz ihres Gerichtssaalberichts der Schlußsatz: Womit nach anderthalb Jahren der Beleidigungsprozeß vorläufig zu Ende war.
Die Stadt Offenbachs
und Pauspertls
Und schon riechen betriebsame deutsche Bearbeiter das Geschäft und greifen auch nach den unbekannteren Werken, deren beschwingter Schmetterlingsesprit ihnen unter den schwerfälligen Händen bleiben muß. Sonderbar, daß sich diese Adaptierungsarbeit hinter dem Rücken Wiens vollzieht, oder vielleicht gerade nicht sonderbar. Wien hat an Offenbach nichts gutzumachen, nichts zu entdecken. Es war immer sein zweites Paris, seine geliebte, treue, verständnisvoll mitlachende Offenbach-Stadt — —
Julius Korngold, 21. Nov. 1930
Die sorgsamste Betreuung des textlichen Gutes darf, da einer der beiden Buchautoren (Halévy) noch nicht dreißig Jahre tot ist, ohne Zustimmung und materielle Teilnahme der (deutschen) Rechtsinhaber nicht erfolgen. Dagegen ist jeder Frevel am Geisteswerk Offenbachs — Verstümmlung des musikalischen Wertes als solchen oder durch Unterschiebung eines wesensfremden Textes — erlaubt. Knotentum und Kommiswesen, das die Dramaturgie und Regie der neuen Bühne führt, kann, von keinem Gesetzgeber gehindert, von keiner kulturellen Instanz gehemmt, dem gezüchteten Mißgeschmack der Kundschaft und dem eigenen Geschäftstrieb das äußerste Opfer am Wert bringen. Die staatlich gewährte Schutzfrist, deren Ablauf — eines der ödesten Probleme der freiheitlichen Publizistik — dem Bildungsphilisterium als Wohltat gilt, dient dem wirtschaftlichen Interesse der Erben. Aber die »Freigabe« des künstlerischen Objekts erfolgt, ohne daß die Gesetzmacher, die auch Goetheverse als Reklame für Sockenerzeuger freigeben, daran gedacht hätten, sie mit der Bedingung zu verknüpfen, daß das innere Gut ungeschändet und unangetastet bleibe; ohne daß hier eine Strafsanktion vorgesehen wäre, wie sie sich zum Schutz des Denkmals, das den Leib des Dichters vorstellt, von selbst versteht. Der Segen dieser Freigabe, die eine demokratische Doktrin als Popularisierung des Kunstwerks erdacht hat und die bloß das materielle Erbe jedem Verdrucker und Antiszenierer zuschanzt: tausendfach ist er mit dem Fluch der Verpöbelung des geistigen Inventars belastet. Wie die Berliner Geisteskonfektion, wie das auf die armen Schauspieler losgelassene Pack von Anreißern und verkrachten Intellektuellen sein Mütchen an einer heroischen Sprachwelt kühlt, in die sie einbrechen, weil sie ihnen unerschlossen bleibt; wie diese Regisseure des eigenen Defekts Rache am Vers nehmen und, eine höhere wie tiefere Natur als »Pathos« verschreiend, deren Vergewaltigung durch Trivialität praktizieren: das wiegt nun nichts im Vergleich mit den Neuerungen,
die man, von mir auf die Fährte einer großen Theatermöglichkeit gebracht, jetzt allerorts mit Offenbach vorhat. Und hier wieder ist die Verletzung der musikalischen Substanz im einzelnen Werk nichts, neben der Schändung einer Geisteswelt, neben der höllischen Lust: aus der Idee heraus, das Offenbach’sche Milieu sei — für einen von solchen Machern depravierten Geschmack — »veraltet«, ein Unlösbares zu lösen und diese Musik, die in ihrer Sphäre lebendig ist wie keine und außerhalb tot wie keine, von denselben Figuren agieren zu lassen, deren seelischer Umkreis sonst von Leopoldi-Klängen ausgefüllt war. Musikalisch und kulturell interessierte Kreise, falls es Derartiges noch geben sollte, seien aufgefordert, sich das Un- vorstellbare, das sich jetzt allabendlich unter dem Titel »Der König ihres Herzens« und unter dem Namen Offenbach, mit Zustimmung oder wohlwollender Duldung einer fachmännischen Kritik, im Johann Strauß-Theater begibt, anzuhören und anzusehen. Anzuhören: wie die wundervollsten musikalischen Erinnerungen, vorhanden und doch kaum wiederherstellbar, wie irgendetwas, losgehackt aus dem edelsten Organismus, einen Gesangstext umrankt, der den Jargon des Auswurfs der neuwienerisch-jüdischen Welt, so zwischen Kasmader und Gent, bedeutet. Anzusehen: wie die gewissen Greuelgestalten des neuen Operettenwesens, immer viere hintereinander, umkreist von »Girls«, die Gebärden ihrer unsagbar peinlichen Lustigkeit nach Offenbach’schen Noten vorführen; und keineswegs zu Dank diesem Publikum, das die so entseelte Musik als öde Verlassenschaft empfindet und zu dem willkommenen Gehopse von Schiebern und Pupperln mit Recht die Kalman und Benatzky herbeisehnt. Doch neben all der Verschneidung, Klitterung und Entleerung von Motiven aus »Seufzerbrücke«, »Mädchen von Elizondo« usw. das Unvorstellbarste von allem und nicht einmal in einer Stadt denkbar, die so mit jedem Atemzug ihres heutigen Kunstdaseins eine große Vergangenheit entehrt: der süße Abschiedsbrief der Perichole, der unsterbliche Seufzer aus Liebe und Not — losgerissen aus einem dramatischen Brieftext, bei dem jede Letter mit jedem Ton sich im Leid der fraulichsten Frau bindet: gesungen als Schmachtfetzen, der inhaltlich etwa die erotischen Sorgen eines Troubadours aus der Wäschebranche illustriert. Ein kalter Schauder läuft einem über die Haut — mehr noch als vor der Untat: vor der Fühllosigkeit der zuhörenden und applaudierenden Menschen; vor dem Faktum, daß keiner unter diesem Publikum, unter dieser Kritik auch nur eine Ahnung hat, was da geschehen ist, und daß die Sorte von Fachmännern sich dann noch von den Tätern informieren läßt, was da erneuert wurde. Diese Renaissance, diese Rettung Offenbachs durch Pauspertl, diese Hinstellung seines Geistes auf der Szene und seines Bildes auf dem Vorhang neben dem des »Propaganda Fischer« — das spielt sich wahrlich nicht »hinter dem Rücken«, sondern vor Augen und Ohren einer Stadt ab, der Herr Korngold nachrühmt, daß sie immer eine Stadt Offenbachs gewesen sei. Und sein Stellvertreter geht hin und versichert, es seien »keine Einwendungen zu erheben«, wenn der Bearbeiter, der in Offenbachs Schatzkammer »nur zuzugreifen hat«, solches tue und »wenn dies, wie im vorliegenden Falle, mit Pietät, Stilgefühl und auch mit einiger Sachkenntnis geschieht«. Und er habe ja doch »den populären Offenbach nicht angetastet«, sondern, »auf Schlag- kräftigstes verzichtend«, bloß auf verschollene Werke gegriffen, »sich« jene Operetten »einfallen lassen, die nur mehr in älteren Theaterbesuchern angenehme Erinnerungen wecken«. Auf die Gefahr hin, das Unvorstellbare länger am Leben zu erhalten, sollte sich jeder, der heute die Perichole-Arie kennen lernt, von diesem Griff, dieser Erweckung, dieser Möglichkeit des neuen Theaterwesens überzeugen.
Nachtrag: Dürfte auch auf Berlin und das »Blaue Hemd von Ithaka« anzuwenden sein.
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