Vorlesungsprogramm Karl Kraus - Theater der Dichtung

Transkription: 

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THEATER DER DICHTUNG

Die Prinzessin von Trapezunt

Operettte in 3 Akten von Jacques Offenbach

Text von Ch. Nuitter und E. Tréfeu, nach Julius Hopp bearbeitet von Karl Kraus

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Begleitung: Franz Mittler

Nach dem ersten Akt eine kurze, nach dem zweiten eine längere Pause

Textbuch (mit fehlerhaften Gesangstexten) »La Princesse de Trébizonde«, Opéra-bouffe en trois actes, bei Calmann-Lévy, éditeurs Paris, 3 Rue Auber

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19.45 Uhr: Aus der großen Zeit des Carltheaters

Also wohl die dieser unbeschreiblichen Herrlichkeit, als Matras, Knaack und Blasel neben Treumann (dem andern), der Grobecker und der Gallmeyer wirkten, welche Offenbach »meine Sänger« nannte, die großen Komiker, die ihm jede Singerei entbehrlich machten. Die Zeit, da »Pariser Leben« und »Die Prinzessin von Trapezunt« abwechselten und wenn er persönlich eine Premiere dirigierte, die Fiaker schon bei der Oper nicht vorwärtskamen. Oder die Jahrzehnte vorher mit Nestroy, Scholz und Grois in allen Werken des Possengenies? Bis zum Ausgang dieser Epoche, da, nebst Offenbachs Einaktern, »Orpheus« mit Nestroy als Jupiter und Knaack als Styx kreiert wurde. Also gewiß etwas aus der Zeit der Direktionen Nestroy, Treumann, Ascher. Oder vielleicht aus der kurzlebigen Lustspielzeit Mitterwurzers? Dem späteren Lokalpossentheater Blasels? Der Ära Jauners — um 1897 —, die vortreffliche Neuinszenierungen des »Blaubart« und der »Großherzogin« mit Spielmann, Bauer und der entzückenden Stojan brachte? Aber mit welchen Mitteln sollte die »Ravag« die Erinnerung an eine Bühne heraufbeschwören, die wahrlich wie nur das Burgtheater, das Theater an der Wien oder das Théâtre français eine »große Zeit« erlebt hat? Die des Burgtheaters erstreckte sich ihr, in Gemäßheit des christlich-germanisch-merkantilischen Schönheitsideals, von Millenkovich bis Röbbeling, wäre durch die Familien Reimers, Tressler, Zeska sowie Frau Bleibtreu vertreten, aber auch durch die gegenwärtigeren Herren Balser und Hennings — den Paul Hartmann wären wir los —, die bereits unverwüstlichen Thimig jun. und Maierhofer, und vor allem natürlich durch meinen magischen Namensvetter mit dem schärfern ß, der nach Aussage der jüngsten Ignoranten Devrient (den andern), Schröder, Anschütz, Löwe, Dawison, Sonnenthal, Baumeister, Lewinsky, Matkowsky, Mitterwurzer plus Beckmann und La Roche in die Tasche steckt, während ich ihn für einen saubern Redegliederer halte — nicht aufregend, gemessen an der Möglichkeit, daß Hartmann (der andere) diesenantipathischen »Kaiser von Amerika« gesprochen hätte — und für einen tüchtigen Chargenspieler, der manchmal die Verwandlungsfähigkeit des allzufrüh verstorbenen Müller-Hanno erreicht. (Am wenigsten erträglich dort, wo sich seine Persönlichkeit und sein Brustkasten mit der Rolle decken, etwa beim Hauptmannschen Geheimrat; trostlos als Falstaff.) Möchten die Leute, die noch immer ins Theater gehen, vor allem die, die es nichts kostet, doch endlich zur Kenntnis nehmen, daß es — von etlichen vorzüglichen Episodisten und Lustspieldamen abgesehen — seit 1890 keines mehr gibt und die Trümmer höchstens bis zur Jahrhundertwende vorhanden waren. Verlust des kulturellen Gedächtnisses mag vorkommen, aber dann sollte noch der Begriff »große Zeit« ausgelöscht sein, damit nicht auch hier Gold für Blech gegeben werde. Die große Zeit des Theaters an der Wien, das Offenbach-Werke mit der Geistinger, mit Swoboda, Rott, Friese besetzte und später Girardi erschuf; das neben dem theaterschwachen Johann Strauß Suppé und Millöcker hatte, wäre offenbar durch die »Lustige Witwe« repräsentiert. Und was versteht die Ravag unter der großen Zeit des Carltheaters?

Franz Lehar: a) »Zigeunerliebe«: Ouvertüre; b) »Der Rastelbinder«: 1. Wenn zwei sich lieben, Duett; 2. Ich bin a Weanakind, Lied — Edmund Eysler: »Die Schützenliesl«: Auftrittslied der Liesl — Heinrich Reinhardt: »Der liebe Schatz«: Dort an der Donau, Marschquartett — Oskar Straus: »Ein Walzertraum«: Walzer — Emmerich Kalman: »Die Bajadere«: a) Auftrittslied der Odette; b) Vermählungsszene — Franz Lehar: »Der Göttergatte« usw.

Und dann kamen gleich die Ratzen. — Wäre die Rundfunkkritik nicht hier wie überall prostituiert (weil die Tinterl, die Dirigentenleistungen oder bodenständige Lyrik loben, zuweilen auch den Äther durchstinken dürfen), so hätte sich vermöge dessen, was die Nichtswisser vom Hörensagen wissen, doch ein wenig Protest gegen den Hohn geregt, einer Stadt mit so ehrwürdiger Theatervergangenheit zwischen Gejodel und Heurigenmusik, dem
Wunsch, wieder einmal in Grinzing zu sein, und der sattsam bekannten Tatsache, daß mei Muatterl a Weanerin war, noch solchen Pietätsbeweis anzubieten.

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Über die Unmöglichkeit einer Aktualisierung der Offenbach-Texte in der Welt der Hitler und Stalin (obschon in dessen Bereich Offenbach bei entsprechender Verhunzung genehmigt ist) geben die Programme vom 1. Dezember (Madame l’Archiduc) und 5. Dezember (Perichole) Aufschluß. Ihre Zeitwidrigkeit in dumpfen Tagen macht sie zeitgemäß, denn in jedem der Klänge, zu denen sie überleiten, ist mehr Menschlichkeit als in sämtlichen sozialen Heilslehren, deren Opfer erbarmungswürdig, deren Nutznießer erbärmlich bleiben. Der Versuch, über den persönlichen Anreiz des »Wiederauftretens« hinaus, einer weiteren Öffentlichkeit das »Theater der Dichtung« statt des andern Theaters schmackhaft zu machen, scheint fehlgeschlagen, da sich für Shakespeare, Offenbach und deren geistige Vermittlung in ganz Wien kaum mehr als dreihundert Menschen interessieren dürften. Und doch sind es Vorstellungen, durch die, wenn sie täglich stattfänden, eine Erkrankung abgesagt werden könnte und die wegen Unpäßlichkeit des Vortragenden stattzufinden hätten. Er hat sich zwar noch nie gehört, aber nach mancher Aussage dürften die Zahllosen, die in der gleichen Lage sind und bleiben wollen, ihr Lebtag nicht mehr erfahren, was Theater ist, vor allem nicht die Fachleute, also weder Dilettanten noch die Ignoranten, die berufen sind, ihnen die öffentliche Meinung zu machen. Daß das Ensemble des »Theaters der Dichtung« lieber verstummte als sich von solchem Kaliber, das sonst eingeladen wird, die Fähigkeit bestätigen zu lassen, weiß man. Ist es aber vorstellbar, daß lebende Zeugen verschwundner Theaterpracht deren volle Wiederherstellung durch die Einzelstimme bekunden, und kein Glied der kulturellen Repräsentanz dieser Stadt in zwanzig Jahren jemals den Mut aufgebracht hat, sich privatim davon zu überzeugen? Daß das Kulturpack durchhaltend vorzieht, mit den Eindrücken des heutigen ernsten und heitern Theaters sich und die Leser zu beschummeln? Auf solche, die »andere Sorgen zu haben« als alleinigen Denkinhalt eines schäbigen Zeitalters festgelegt wünschen, wird nicht minder gern verzichtet. Dem Intelligenzler, der die Nachbarschaft einer Vorlesungsannonce und einer Krupnik-Annonce unter dem Motto »Weit gebracht!« vermerkt (als ob man im Weltall und in der Arbeiter-Zeitung jemals solcher Nähe hätte entgehen können und als wäre die Bezahlung der Presse das odiöse Moment); dem anonymen Freidenker, der sich erlaubt hat, zu dem Namen »Perichole« ein »Kusch!« zu klecksen, ist man auf der Spur. Nein, man wird, solange man andere und sich selbst mit künstlerischen Gaben erfreuen kann, aus Respekt vor Briefschreibern nicht kuschen, deren »eigene Schriften« zwischendurch zu vergleichen auch nicht wenig anregend ist. Der Vortrag aus Shakespeare, Offenbach, Nestroy diene dem Sprecher wie den Hörern als Zeitvertreib bis zu dem Tag, wo es jenem belieben wird, sich wegen mehr öffentlicher Äußerungen mit einem aufgeregten Analphabetentum (Mevolution) einzulassen, das doch von Lassalle nicht mehr als das Denkmal kennt und ihn für so groß hält wie dieses. Augenblicklich fehlt zur Produktion außerhalb des Podiums (leider auch zu der Aufgabe, die deutsche Sprache vor dem Deutschtum zu hüten) alle erforderliche Unlust. Was immer aber getan oder unterlassen sein möge — die Gleichschaltung mit der Dummheit wird nicht erfolgen!

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Signatur: 
H.I.N.-240450