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Der böse Geist Lumpazivagabundus
oder
Das liederliche Kleeblatt
Zauberposse mit Gesang in drei Akten von Johann Nestroy
Musik von Adolph Müller sen.
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Begleitung: Viktor Junk
Zwei Pausen
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Programm-Notiz vom 5. November 1922:
Das volkstümlichste Werk Nestroys wurde am 10. April 1833 im Theater a. d. Wien zum ersten Male, am 21. April 1835 zum hundertsten und am 18. Februar 1881 im Carltheater zum tausendsten Male aufgeführt. Der Schuster Knieriem, ursprünglich die Nestroysche, und der Schneider Zwirn, merkwürdiger Weise die Partie des Wenzel Scholz, sind jene Gestalten der Wiener Lokalbühne, mit denen der Ruhm von Generationen großer Komiker verknüpft bleibt. Immer wieder hat sich auch das hohe Sprechtheater, mit reichen szenischen Mitteln und dem Ersatz der Komik durch den Spaß der Herablassung, an dem Werk versucht und der Erfolg konnte immer nur sein, daß die schöne Absicht, die Volksmäßigkeit um ihres klassischen Ausdrucks willen sichtbar zu adeln, in deren Herabwürdigung ausschlug und in eine Nebenposse, die die wirkliche um den klassischen Ausdruck verkürzt hat und nichts übrig ließ als ein Nebeneinander von Trivialität und dem Reiz der Ungewöhnlichkeit. So mag es auch mit der Burgtheateraufführung (1900) bestellt gewesen sein. Lewinsky, der immerhin einst dem dämonischen Grundzug der Gestalt nahegekommen wäre, gab den Knieriem, den Zwirn gab Kainz, dessen zwirnsdünner Humor selbst das Quodlibet nicht gescheut haben soll, jene berühmte Parodie der italienischen Oper, die freilich zur vollen Verwirklichung des alten Theaterübermuts unerläßlich ist und die in den Verschandelungen der neueren Bühne entweder durch ein schlechtes Couplet oder durch die Stilwidrigkeit einer »seriösen« Konzerteinlage ersetzt wird. Sie muß auch in einem Vortrag Platz finden, der in dem Bestreben, das Nestroysche Bühnenleben zu ursprünglicher Geltung zu bringen, auf das Ungewöhnliche weder als Reiz noch als Gefahr Bedacht hat. Denn das fragwürdige Animo eines als Schneider verkleideten Hamlet ist etwas anderes als die Bereitschaft zur Nachgestaltung jeder Sphäre, in der nur die Kunst die Würde bestimmt. In einem besseren Sinne war die Nobilitierung Nestroys durch das Burgtheater (deren es nicht bedurft hat und die durch ein Gastspiel von Volkskomikern zu bewirken war) vollzogen, da Sonnenthal den Feenkönig gab *); er hatte übrigens, wie erzählt wird, in seiner Jugend als Tischler Leim noch mit Nestroy, in Graz, gespielt, dem das Urteil in den Mund gelegt wird: »Ich habe schon mit vielen Tischlern gespielt, aber noch nie mit so einem Kunsttischler.« Der Vortragende hat das Werk bloß einmal auf einer Provinzbühne (mit dem vortrefflichen Straßmeyer als Knieriem) und kürzlich in einer mittelmäßigen Darstellung des Berliner Staatstheaters gesehen, in der nur die Familie Palpiti (mit Paula Conrad) ein Bild von vollendeter Echtheit war. Unter allen Unehren, die Nestroy auf dem großstädtischen Theater erwiesen wurden, war wohl die äußerste der Unfug, weibliche Varietétalente in den Partien der drei Gesellen, also etwa die Frau Niese als Schuster, hinauszustellen und den Humor der lebendigsten Charakterfiguren des Wiener Theaters für den Privatgspaß einer leicht zu durchschauenden Maskerade preiszugeben und für die Gelegenheit, sich mit Nestroy einen Jux zu machen.
Was die hochnäsige Literaturkritik — von Hebbel und seinem Kuh, Laube, Vischer und dem schändlichen Quälgeist Saphir bis herunter zur armseligen Gegenwart — mit der einzigen Ausnahme Speidels, an dem größten deutschen Sprachsatiriker gesündigt hat, der noch im flüchtigsten Theaterhinwurf mehr Geniefeuer hatte als sie in ihrem gemeinsamen Autordasein, müßte einmal zitatkräftig zusammengestellt werden. Zum Anlaß des »Lumpazivagabundus« sei nur erwähnt, was in der stellenweise nicht wertlosen Monographie Neckers als ein Glanzpunkt literarhistorischer Betrachtung vorkommt:
Richard Maria Werner zieht in der Lebensbeschreibung Nestroys, die er in der »Allgemeinen Deutschen Biographie« XXIII S. 447 ff. veröffentlicht hat, eine Parallele zwischen dem »Lumpazi« und Raimunds »Verschwender«, in der es heißt: »Der Vergleich mit Raimund drängt sich uns geradezu auf; alles ist parodiert: das Reich Stellaris’ mit seinen lockeren, Schulden machenden Bürschlein, die bizarre Verspottung des Goetheschen Faustprologes, die Wette zwischen dem bösen Geist Lumpazi und der Fee Fortuna ist der direkteste Hohn auf Raimunds halb melancholisch poetische Cheristanefabel; aus den anmutenden, harmlosen Figuren der Valentingruppe im ‚Verschwender‘ ist das liederliche Kleeblatt Zwirn, Leim und Knieriem hervorgewachsen« u. s. w. Diese Parallele wird durch die einfache Tatsache hinfällig, daß Raimunds »Verschwender« beinahe ein ganzes Jahr später als Nestroys »Lumpazi« überhaupt zum ersten Male aufgeführt wurde, nämlich am 20. Februar 1834 im Josefstädter Theater in Wien .... Unmöglich kann Nestroy die Parodie eines ihm und wahrscheinlich auch Raimund selbst noch unbekannten Stückes geschrieben haben.
Und daß bei Nestroy eine bizarre Verspottung des Faustprologs vorkommt, konnte auch nur einem Literarhistoriker einfallen. Dergleichen hat natürlich auch die Legende in Umlauf gebracht, Raimund habe es nicht überleben können, daß Nestroy ihm seine Geisterwelt verspottet hat.
Die Musik von Adolph Müller sen. wurde für den Vortrag vollständig verwendet, der Text mit einigen der bekannten, nur in Theatermanuskripten erhaltenen Improvisationen versehen. Im Kometenlied, von dem fünf Strophen (vier in der Buchausgabe) vorliegen, ist jeweils nur der »astronomische« Teil beibehalten, der auf die irdischen Verhältnisse des Vormärz abzielende, heute fast unverständliche oder allzu harmlose Text durch einen neuen ersetzt worden; etliche ganze Strophen sind neu hinzugekommen.
*) Diese Bemerkung war einem Gedächtnisirrtum des Gewährsmannes zugeschrieben. Den Stellaris hat nicht Sonnenthal, sondern Herr Löwe gesprochen.
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