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Die letzten Tage der Menschheit
Bühnenfassung
I. Akt
Sirk-Ecke / Zimmer des Generalstabschefs / Hinterland / Standort des Hauptquartiers / Hinterland / Ein Infanterieregiment dreihundert Schritt vom Feind / Bei der Batterie / Schützengraben im Wurstelprater / Jena / Viktualienhandlung des Vinzenz Chramosta / Eine protestantische Kirche / Volksschule / Wallfahrtskirche / Nachts am Graben
Kurze Pause
II. Akt
Sirk-Ecke / Hinterland / Vor dem Kriegsministerium / Landesverteidigungsministerium / Bureauzimmer bei einem Kommando / Ein anderes Bureauzimmer / Restaurant des Anton Grüßer / Standort in der Nähe des Uzsok-Passes / Hauptquartier, Kinotheater / Eine stille Poetenklause im steirischen Wald / Vereinssitzung der Cherusker in Krems / Zimmer im Hause des Hofrats Schwarz-Gelber
Längere Pause
III. Akt
Sirk-Ecke / Vor unseren Artilleriestellungen / Redaktion in Berlin / Hauptquartier / Marktplatz in Grodno / In einem Coupé / Während der Somme-Schlacht / Kriegsministerium / Wiener Nachtlokal / Nachts am Graben
Kürzung und Änderung vorbehalten
Begleitung: Franz Mittler
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Notiz des Wiener Programms
Dem Schweigen der vaterländischen Publizistik über die »Letzten Tage der Menschheit« und der Berliner Meinung, daß sich derlei Angelegenheiten überlebt haben, begegnen immer noch ausländische Stimmen, die nicht nur das Überleben des Werkes über das Gesudel bezeugen, sondern auch seine furchtbare Zeitgemäßheit vor eben der optimistischen Niedertracht, die den Krieg, den sie erzeugt hat, vergessen haben möchte. Jenen hat sich kürzlich die jugoslavische Zeitschrift ‚Hrvatska Revija‘ mit einer umfassenden Darstellung des Inhalts angeschlossen, der die folgenden Stellen entnommen werden:
— — — — In jener Zeit, die nach dickgeronnenem Menschenblut roch, als die Unterschiede zwischen den Begriffen einer Pseudo-Zivilisation und der alltäglichen Wirklichkeit ein- leuchtend wurden, blieb Karl Kraus isoliert von seiner Wiener Umwelt und konsequent vernünftig saß er keiner Lüge des Krieges auf. All die schrecklichen Symptome der unverfälschten Wirklichkeit spiegelten sich in den Lügen der Tagespresse, und eben diese Lüge der Tagespresse, dieses Mißverhältnis zwischen der Tragödie jener, die auf den Kriegsschauplätzen sterben, und der Zeitungssprache, mittels deren man das Sterben in den Gewinn einer Extraausgabe verwandelt, diese Lüge enthüllte Karl Kraus als die größte Lüge der sogenannten heldenhaften und »großen Zeit«. Er machte es sich zur Mission, dieses ganze Pressewesen aufzuzeigen und so der großen Zeit die Maske abzureißen; und durch vier Jahre schnitt er tagaus, tagein mit der Schere Dokumente aus den Zeitungen und leimte Karikaturen aus diesen Ausschnitten, neben denen die Karikaturen eines Daumier reinste Romantik sind. In dieser traurigen Zeit, da die Kriegstrompeten lauter wurden als die Posaunen des Herrn, blickte Kraus in die Abgründe der Stadt Wien mit dem ruhigen Blick eines Forschers und wenn sich in Wien irgend jemand fand, der die intellektuelle Ehre der Stadt rettete in diesem allgemeinen Wahnsinn, so war es der Autor der ‚Fackel‘, der Zeitschrift, die das kulturhistorische Denkmal der letzten zwanzig Jahre des Franzjosefismus bedeutet.
— — — — Das Faktum, daß die Entwicklung der Menschheit sich der ökonomischen Entwicklung untergeordnet hat, ließ den Menschen nur eine Freiheit: die der Feindseligkeit. Die Presse ist die stärkste Waffe dieser menschlichen Feindseligkeit. Die Presse wurde zu einem kriegerischen Handwerk und der Reporter, Professionalist, versieht als Kriegsberichterstatter den Dienst eines Menschen, der, eine Feuersbrunst meldend, über dem Feuer und über dem Haus steht. Der Reporter wurde zum Brandstifter, um ein möglichst sensationelles Feuer melden zu können, weil von diesem und solchem Feuer der Reporter lebt, aus seinem feuermeldenden Beruf profitschlagend. Der Betrieb der zeitgenössischen Presse ist dem Menschen über den Kopf gewachsen und die Menschheit, wäre sie bei Sinnen, müßte diese Kuriere des Krieges und der Feuersbrünste wegen der schlechten Nachrichten verprügeln, wie Shakespeares Cleopatra den unglücklichen Boten wegen der Nachricht von der Niederlage verprügeln ließ. Die Menschheit hingegen kauft die Zeitungen, berauscht sich an den Zeitungslügen und so übertönt der Widerhall des Zeitungswortes die Panik und die Hilfeschreie bei der Katastrophe. Leidend an der Idee, daß die zeitgenössische Presse einer der Hauptschuldigen der Katastrophe ist, stellte Kraus aus Zitaten dieser Kriegspresse ein Buch von 800 Seiten zusammen, und er errichtete so aus Zitaten ein Denkmal, das die Presse überleben wird für alle Zeiten, so lange, als in kulturhistorischen Chroniken von dem letzten internationalen Blutbad die Rede sein wird.
Das Problem des literarischen Ausdruckes war und bleibt: wie könnte man die zeitgenössische Tragödie der Operettenwirklichkeit unverfälscht, wahrhaft und wirklich darstellen? Karl Kraus hat diese Frage für sich gelöst: mit dem Zitat. Er hat die unverfälschte Wirklichkeit zitiert und hat sie in sein Kriegsalbum geklebt, wie das Zeugnis einer kriminellen Zeit. Zwischen diesen Ausschnitten gibt es Humor, aber dieser Humor ist »Selbstvorwurf eines, der nicht wahnsinnig wurde bei dem Gedanken, mit heilem Hirn die Zeugenschaft dieser Zeitdinge bestanden zu haben«. In diesem und solchem Zitieren ist Schopenhauerisch-romantisches Hassen für alles, was menschlich ist, und der Scharfblick dieses Schauens ist unerreicht. — — In diesem Schauen gibt es auch Heiterkeit, aber die Freude dieser Kraus’schen Erscheinungen ist »qualgeboren«. — — Er begann an seinem Zyklus zu arbeiten in der Zeit, als »Phrasen auf zwei Beinen standen und Menschen nur eines behielten«, und so sehr auch dieses Beobachten der Ereignisse auf Wien lokalisiert ist, auf wienerische Verhältnisse und auf Wiener Menschen, wirft es doch seine Schatten auf alle Kontinente, weil es verbunden ist mit internationalen Quantitäten: es ist die Diagnose eines internationalen Krankheitszustandes, der auf allen Fronten und in allen Hinterländern volle vier Jahre grassierte. In der nestroyisch- scherzhaften Rede des Wiener Dialektes ist potenziertes Grauen, und wenn Kraus den Korso am Wiener Ring, an jenem blutigen August Neunzehnhundertvierzehn schildert und die Reporter, Fiaker, Dirnen, Diebe und Kleinbürger die ersten Kriegswitze machen, da klingt aus diesen Witzen ein langsames und unsichtbares Entsetzen, welches von Seite zu Seite wächst. — — Die Menschen verwandeln sich von Seite zu Seite in Dämonen und Immerunwahrscheinlicheres wird zum Alltäglichen. — —
— — Zwischen diesen blutigen Quantitäten bewegt sich die Figur des negativen Kritikers, des Nörglers, der Schatten Karl Kraus’ .... Das ist die Erscheinung eines geistigen Skeptikers .... der unmateriell durch die Dinge und Ereignisse schreitet, als Dolmetsch und Trauergefolge der Wahrheit. — — — —
Die Funktion des Nörglers mußte dem Zweck der Bearbeitung fast zur Gänze geopfert werden; die Gestalt ist bloß an zwei Stellen monologisch und einmal in stummer Gegenwart angedeutet, befreit von dem optimistischen Stichwortbringer, dessen Geistigkeit in den Gesprächen zwischen dem Abonnenten und dem Patrioten erhalten blieb. Der Text des Vortrags weicht — durch Beibehaltung oder Weglassung einiger wenigen Szenen — nur unwesentlich von dem der Bühnenfassung ab. Diese — als Versuch, das Bild der Quantität in dem Rahmen eines einzigen wenngleich umfangreichen Theaterabends darzubringen — wurde für eine Möglichkeit unternommen, der einstweilen noch keine Theaterwirklichkeit entspricht. Diese Ungewißheit war jedoch ein stärkerer Antrieb zur dramaturgischen Leistung als vormals die realen Bewerbungen der Reinhardt und Piscator.
Der Entschluß bekundet, ungeachtet aller Hindernisse der theatralischen Ausführung, den Willen des Autors, den Krieg gegen den Krieg und gegen die Mächte, die ihn ermöglicht, herbeigeführt und erklärt haben, fortzusetzen — trotz den drei bewältigten Etappen: »Haag, Rom und Concordiaball«.
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