Karl Kraus, den man seiner Herkunft nach immerhin einen Wiener nennen muß, las gestern im kleinen Künstlerhaussaale aus seinen Werken vor. Zu ihrem Verständnis wird wenigstens einige Vertrautheit mit der Atmosphäre Wiens vorausgesetzt, denn Karl Kraus ist der frenetischeste Widersacher seiner Landsleute, dieses ganzen Menschenschlags, der Behörden, der Kulturschlamperei, und geht bei seinen Betrachtungen, wie gebannt, zumeist von ihnen aus. Wer solche Vertrautheit zu seinen Vorträgen nicht mitbringt, fühlt sich doch durch ein impetuoses Temperament hingerissen und mitunter sogar vor Visionen von dichterischer Kraft gestellt, etwa bei der Schilderung der tobsüchtig ausbrechenden Trauer eines Negers am Grabe seines weißen Herrn, bei der Gegenüberstellung einer verurteilten alternden Totschlägerin und eines freigesprochenen Mörders (und Tangotänzers). Hier ist der Boden der Satire längst verlassen und eine erhabenere Sphäre erreicht. Hier erkennt man, daß eine Linie von Nestroy über Kürnberger auf Karl Kraus führt. Seine Satire, übrigens auch ein Wiener Gewächs und von Daniel Spitzer nicht unbeeinflußt, mischt dagegen Reines mit Unreinem, Persönliches mit Typischem, Symptomatisches mit Zufälligem allzu sehr, als daß sie sich immer über lokal erklärliche Boshaftigkeit erheben würde. c. h.
[1913, zitiert in: Die Fackel 389-390, 15.12.1913, 24-25] - zitiert nach Austrian Academy Corpus