Karl-Kraus-Vorlesung.
Lustspielhaus.
I.
Neugier empfand ich, Kraus in seiner heutigen Thersituation zu sehen. Er hatte mich gestern, am Lützowufer war es, besucht — als Mitarbeiter derselben Breslauer Zeitung. Gestern; das Leben lag dazwischen. (Schiller: pfeilgeschwind.)
II.
Indessen Krach; Abgrenzung. Innen, bei mir, mit Lächeln. Er sagt jetzt wahrhaftig ein Gedicht, worin er schon zurückschaut. Auf die Wolter .... und so. Das liegt mir gar nicht.
Sonst wirkt sein Vortragsabend mild. Liebenswert. Weit mehr vergnüglich als angrifflich.
III.
Kraus liest besser, als er sich liest. Sein betriebsamer Weltekel; die emsige Menschenscheu; die Litfaßsäulen-Abseitigkeit — das tritt zurück vor etwas beinah Geselligem: wenn sich der Vortragende bei Applaus gern dankend erhebt.
Er spricht weder wie ein Berufskünstler noch wie ein Dilettant. Sondern wie ein Privatmann mit Stimme — der eindringlich vorzutragen weiß. Ein Trompethiker.
Manchmal sagt er gewissermaßen Verse, singt melancholisch-hübsche Couplets, langwierige darunter, gibt ein ulkiges Gedicht über Salzburg … und sucht in hellem Pathos mit recht akzentuierten Akzenten den Dank der berufsmäßig gehaßten Welt.
IV.
Die »Chinesische Mauer«, Kulturschmuß, versagt — gegen halb elf Uhr. In dieser Reihenfolge zu spät.
Vieles bei Kraus kommt minder aus dem Drang nach Größe .., als um die Abwesenheit von Kleinlichem darzutun.
Als strebend Bemühter wird er erlöst.
V.
Am Beginn: ein Kriegsruf gegen die Presse, von Baudelaire. Sein eigner Kriegsruf. (Es ist etwa so starkgeistig — wie wenn jemand alle Eisenbahn-Unfälle triumphierend feststellt, um zu erklären: »Ich bin gegen die Eisenbahn«.)
… Ein oft anregender Abend.
[Alfred Kerr, zitiert in: Die Fackel 649-656, 06.1924, 78-79] - zitiert nach Austrian Academy Corpus