Rezension des Ton und Wort

In einer Zeit, da man Weichgehirnen, Schmöcken und Durchschnittsqualitäten an vielen baufälligen Altären ranzig gewordene Weihrauchkerzen anzündet, wäre es das gute Recht einer starken Persönlichkeit, auf derlei kritische Parfüms zu verzichten. Es ist aber nicht die Pflicht der allgemeinen kritischen Bekleidungsindustrie, die Uniformlieferung deshalb zu verweigern, weil sich in den Lagerbeständen nichts Passendes findet, oder weil man aufs Maßnehmen nicht eingerichtet ist. Wenn Karl Kraus eine Vorlesung hält, um seinen Gästen die Eigenart seiner Persönlichkeit unmittelbar näher zu bringen, so hat mich seine Kämpferposition einen Schmarrn zu bekümmern. Ich habe das Recht und die Pflicht, bei Ausschaltung aller polemischen und persönlichen Momente, festzustellen, welche Gewinne der Besuch seiner Vorlesung bringt.

Darum sei, unbeirrt und leidenschaftslos festgestellt, daß Karl Kraus bei seiner vom akademischen Verband für Musik und Literatur am 1. Februar veranstalteten Vorlesung einen großen, ehrlichen Erfolg hatte. Ohne Geistreicheleien zu versuchen, sei trocken chronistisch vermerkt, daß sich seiner zwingenden und starken Persönlichkeit, seinem vielfach vergleichslosen Witz und seinem Humor niemand entziehen konnte. In der Artistik seines Stilvarietés steckt mehr künstlerische Qualität als in manchem seriösen, alleinseligmachenden Reinkünstlertum. Es muß auch gesagt werden, daß diese selbstherrlichen Gedanken durchaus nicht an der Oberfläche spiegelfechten, vielmehr
aus respektablen Tiefen kommen und in Tiefen gehen — können. Vorausgesetzt nämlich, daß sie nicht auf Sackgassen treffen. Ein paar allzu persönlich polemische Ausfälle schienen überflüssig. Karl Kraus, der den großen Beifall mit Zugaben quittieren mußte, liest ausgezeichnet und eindringlich, ohne aufdringlich zu sein.

[Ton und Wort, zitiert in: Die Fackel 317-318, 28.02.1911, 42] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Signatur: 
L-137743