.... Eine ungleich bedeutendere und eindrucksvollere Nestroyfeier war die, die der Satiriker Karl Kraus im großen Musikvereinssaale abhielt. Kraus sprach über das Thema »Nestroy und die Nachwelt«. Sein wahrhaft kongenialer Vortrag ist inzwischen in Nr. 349/350 der ‚Fackel‘ erschienen, so daß jedermann das kleine Meisterwerk nachprüfen und genießen kann. Übrigens ist die Inhaltsangabe oder der Extrakt einer Satire von Kraus ein Ding der Unmöglichkeit, weil da Wort und Wort, Satz und Satz, Witz und Wortspiel und Gedanke so ineinander verzahnt sind, daß man einzelnes nicht unbeschädigt aus dem Ganzen herausnehmen kann. Man lese also bei Kraus selbst nach, was er über Nestroy, den »Geist, der heute fünfzig Jahre tot ist und noch immer nicht lebt«, zu
sagen hat. [...] Es ist gar kein Zweifel, daß von Nestroys »sprachverbuhltem Humor, bei dem Sinn und Wort sich fangen, umfangen und bis zur Untrennbarkeit, ja bis zur Unkenntlichkeit umschlungen halten«, zu den satirischen Glossen und Aphorismen von Karl Kraus eine gerade Linie führt! Diese geistige und künstlerische Blutsverwandtschaft hat Kraus befähigt, auf dreiundzwanzig Seiten seinem Vorgänger ein unglaublich lebendiges Monument zu errichten. Da Kraus überdies ein Rezitator allerersten Ranges ist, riß er seine zweitausend Zuhörer — ich kenne in Wien niemanden, außer ihm, der imstande wäre, im Mai den großen Musikvereinssaal zu füllen! — zu lautestem Enthusiasmus hin.
[Tagesbote Brünn, 25.05.1912, zitiert in: Die Fackel 351-353, 21.6.1912, 49-50] - zitiert nach Austrian Academy Corpus