Vorlesungen von Karl Kraus.
Sechsmal drei Stunden hat man die unverwüstliche Stimme Karl Kraus gehört, an sechs Abenden, deren Programm von Shakespeare bis Nestroy reichte. Das Einzigartige dieses Sprach- und Sprechphänomens besteht darin, daß es den Gegensatz zwischen Vielheit und Einheit aufhebt; hundert verschiedenen Personen verhilft dieser eine zum Wort, so intensiv, daß man sie nicht nur zu hören, auch zu sehen glaubt, und doch wäre es ein grobschlächtiges Lob, wenn man etwa seine Wandelbarkeit rühmen wollte. Er ist kein Schauspieler, vielleicht eher ein Schau-Sprecher, aber in Wirklichkeit mehr als das. Dieses Ohr schlingt, was ihm in irgendeinem Sinne aufreizend nahe- kommt, in sich hinein, und die Stimme, die es wiederbringt, schafft Tonbilder, die man Phonographien nennen müßte, wenn sie nicht doch auch phantastisch wären. Klangeindrücke entstehen von einer unwahrscheinlichen Mannigfaltigkeit, ganze Ensembles wirklicher oder erdichteter Figuren, akustisch-optisch aufgenommen und wiedergegeben, treten auf, aller erdenkliche Menschenwirrwarr entfaltet sich auf dieser seltsamen Bühne, und doch ist es immer der Klang von Kraus’ Stimme, der zutiefst zu hören ist. Er vereint den Blankvers Shakespeares mit dem Trimeter Goethes, diesen wieder mit dem Couplet Nestroys und mit dem eigenen freien und gebundenen Wort. Steht man, wie diesmal, unter dem Eindruck einer ganzen Serie von Vortragsabenden, dann wird aufs unmittelbarste die Fülle einer Persönlichkeit offenbar, deren eigenes Schaffen so viele Ausdrucksmöglichkeiten besitzt und die das, was sie zu sagen hat, auch als Dolmetsch fremden Werkes zu sagen vermag. Daß er ein Agitator im besten Sinne, ein Aufpeitscher höchsten Ranges ist, verwehrt ihm nicht, ein Enthusiast und mehr als ein Nachschöpfer erdentrückter Musik zu sein. Welcher lebende Sprecher könnte oder wollte auch nur Goethes »Pandora« auf sein Programm setzen? Kraus’ Vortrag enthüllt die Geheimnisse des dramatischen Gedichtes, indem er sie in eine höhere Sphäre des Geheimnishaften erhebt. Wenn er es spricht, entschleiert sich das Drama als — man schämt sich beinahe des vielmißbrauchten Wortes — erotischer Gesang. Aus dem Liebestraum des Epimetheus steigt die Liebesgegenwart eines jüngeren Geschlechts auf, im Flammengesang der Epimeleia lodert Angst und Wonne des Weibes, der grandiose Rhythmus der Hirten- und Kriegerchöre stellt dem mystischen Weihespiel die prometheisch-tätige harte Welt entgegen, die im Lebenskampf Eros fremd geworden ist. Keinem Theater wäre es möglich, mit einem Dutzend Schauspielern und mit dekorativen Stimmungskünsten, den Eindruck zu erreichen, den Kraus’ Vortrag des letzten »Faust«-Aktes erzielt. Der sterbende Mensch, der Kampf der Teufel mit den Engeln, diese Szenen, aus Geist und Sprache wiedergeboren, mit keinem anderen mimischen Mittel als ein paar sparsamen Handbewegungen unterstützt, werden höchstgesteigerte Dramatik, ein Götterkampf, in den die Melodie der Engelschöre ihre Rosen streut.
Die Vorlesung des »König Lear«, wiederum in drei mit stärksten Spannungen gesättigte Stunden gepreßt, ist erfüllt von dem Toben ineinander verbissener, sich in Haß und wollüstiger Grausamkeit verzehrender Menschen. Wo Lear aus verzweifelter Enttäuschung seinen Fluch schleudert, wird die Verwandtschaft des textlichen Inhalts mit der Stimmung des Sprechers aufs packendste erkennbar und wenn Kraus das Drama mit den Schlußzeilen melodisch abklingen läßt, scheint ein Vorhang auf den Ausgang gewaltiger Schicksale niederzurauschen. Es liegt nur ein scheinbarer Widerspruch darin, daß die Gemeinschaft des Fluchens, die Kraus und Lear verbindet, am nächsten Abend abgelöst wird durch die glaubwürdigste Einfühlung in die besonnte Welt der »Lustigen Weiber von Windsor«. Falstaff und seine fröhliche Gesellschaft finden den heiteren und scherzbereiten Freund in diesem Darsteller, dessen Lust an einfachen, vergnügten Menschen ebenso leidenschaftlich ist wie seine Abneigung gegen ihr Widerspiel. Es ist mehr als ein Kunststück, wie Kraus beim Vortrag dieses Lustspiels die verschiedensten Dialekte, die mannigfachsten Typen durch- und gegeneinander zum Klingen bringt, wie er nicht nur Sprach-, sondern auch Situationskomik allein durch das Wort lebendig macht, wie er der Romantik der Elfenszenen prachtvollen melodramatischen Ausdruck gibt. (Am Klavier war ihm an diesem und anderen Abenden Fräulein Fritzi Pollak eine vortreffliche Begleiterin, einen Teil dieser Aufgabe hatte Herr Zeller übernommen.) Von Shakespeares Komödie ist der Weg zu Nestroy nicht mehr so weit. Wenn Kraus den »Zerrissenen« und Nestroy’sche Couplets vorträgt, zu denen teils er selbst, teils Mechtilde Lichnowsky die geistverwandte Musik ersonnen hat, wird er zum liebenswürdigen und lustigen Sänger eines unverdorbenen Österreichertums.
Es ist der stärkste Beweis für die Größe des Rezitators Kraus, daß ihr Eindruck durch die Wucht des Schriftstellers kaum verkleinert wird. Trotzdem gingen in einem besonderen Sinn die tiefsten Wirkungen von den Abenden aus, an denen er sich zu seinem eigenen Worte kommen ließ. Mit vielen seiner Verse, die das Erlebnis immer in die strengste und doch natürliche Sprachform binden, mit manchen seiner Glossen, die im kleinen Ereignis das Wesen der Zeit sichtbar machen, vor allem aber mit dem Monolog des Nörglers aus den »Letzten Tagen der Menschheit«, einem großartigen Prosastück, das in hinreißendem und schwindelerregendem Schwung noch einmal den Blick in die grausige Tiefe der Kriegsverschuldung eröffnet. Man fühlt es, daß Kraus diesen Teil seines Werkes trotz der scheinbaren Zeitgebundenheit als einen der wichtigsten auffaßt. In den fast vier Jahren, die seit dem ersten Erscheinen der in ihrem Ernst und noch mehr in ihrem Humor furchtbaren Szenenreihe verstrichen sind, hat man manchen ihrer Anlässe anders beurteilen gelernt. Die Objekte des Angriffs lassen sich vielleicht verschieben, vertauschen; der Ton- fall der Anklage bleibt, und wer sie heute als unzeitgemäß empfindet und sich durch Erinnerungen an eine Epoche, die angeblich vorüber ist, belästigt fühlt, mag bedenken, daß das Verlangen, vom erledigten Krieg nichts mehr zu hören, einen Gleichgültigkeits-Zustand erzeugen kann, der die Fanatiker des Vergessens in Gefahr bringt, Zeugen oder Opfer eines neuen Krieges zu werden. Dem Zeitgenossen Kraus wurde eine Stimme verliehen, die allen Kriegsgraus festhält und fortklingen läßt, als Mahnung und Warnung für kommende Zeiten, die nicht in das gleiche Verhängnis stürzen wollen. »Die letzten Tage der Menschheit« erscheinen jetzt, umgeformt, als Buch. Sie sind zwar kein politisches, sondern ein Kunstwerk, gleichwohl möchte man wünschen, daß sie auch in Außenämtern mit Interesse gelesen werden. L. St.
[Prager Tagblatt, zitiert in: Die Fackel 595-600, 07.1922 73-75] - zitiert nach Austrian Academy Corpus