Vorlesungen von Karl Kraus.
Das Wort, das in ihm wirkt, und aus dem er spricht, hat niederschmetternde Kraft, wenn man es, fern vom Anblick des Mannes, in gleichmäßiger Druckschrift liest. Wäre es anders, könnte man aus den Lettern, in denen das Erlebnis Karl Kraus’ aufbewahrt ist, den Prozeß dieses Erlebens nicht erregt nachschaffen, so müßte sich ein im Voraus als absurd zu erkennender Zweifel an der Fern- und Nachwirkung einstellen. Aber trotz der erschütternd ins Weite gehenden Eindringlichkeit des gedruckten Wortes legt die Saalgemeinschaft neue Werte zu den aus der Lektüre erworbenen. Im Hören und Sehen schließen sich selbst für den minder guten Leser, der ratlos vor einer aus Haß und Liebe zusammengesetzten Erscheinung steht, die vielfarbigen von diesem Lichtkörper ausgehenden Strahlen zur überraschend selbstverständlichen Einheit zusammen. Die Frage: wie kann dieser eine Satiriker und Anbeter, Drachentöter und Liebhaber, Tyrann und Troubadour, Kritiker und Schöpfer, Philosoph und Kupletsänger zugleich sein, diese Frage löst sich vor einem hinschwebenden Klang, vor einem Kinderlächeln, vor einem Blick voll Güte und Wohlwollen, der die eben noch drohende Geberde besänftigt. Der Kompetenzstreit der geistigen Ressorts verstummt vor dieser umfassenden Kompetenz, die einem mit dem Bewußtsein höchster Verantwortlichkeit Begnadeten das Recht gibt, zu richten und zu dichten, weil er der berufene Versteher und Verkünder des menschlichen Gesetzes ist.
Welche von einem einzigen Mann, mit keinem anderen Instrument als der Stimme bestrittene Veranstaltung könnte sich an Fülle und Tiefe mit den vier aufeinanderfolgenden Vorlesungen vergleichen, die in dieser Woche, jegliche Reklame verschmähend, vor ausverkauften Sälen stattfanden. Es ist nicht leicht, darüber zu entscheiden, ob der Eindruck mächtiger war, wenn Kraus dem eigenen oder dem fremden Wort — das dann doch immer zum eigenen wird — seine Sprache lieh. Wäre man schon bereit zu sagen, daß die Vorlesung zweier Akte aus den »Webern« ein zitternd genossenes Wunderwerk der Meisterschaft war, eine Vielheit von Menschenstimmen zum einstimmigen gewaltigen Aufruf zusammentönen zu lassen, aus dessen Klangstärke selbst optische Visionen aufsteigen, und daß diese Wirkung nicht überboten werden konnte: so denkt man dann doch wieder an die furchtbaren Szenen der »Letzten Tage«, mit ihren grauenhaften Tierstimmen, welche die unvergeßliche Musik zu einer Erinnerung liefern, die lebendig zu erhalten Kraus aufs leidenschaftlichste sich bemüht. Er zeichnet in die gesegnete Landschaft die Riesenfiguren Gogs und Magogs, er gibt den Rhythmus des Wiener Kaffeehauses mit krächzenden Chören der Wucherer, er stellt ein musikalisches Gruppenbild aus einem Nachtlokal am Standort des Armeeoberkommandos, er liest nichts als das offizielle Programm einer militärischen Feier — und die Schmach einer Vergangenheit wird lebendig, die, dermaßen akustisch festgehalten, für den Hörer zur unverlierbaren Warnung vor dem Versuch wird, sie jemals als Zukunft wiederauferstehen zu lassen. Wie wäre es schwer für den Mann, der nur mißratener Menschen Feind, aber nicht Gottes Feind ist, von da den Weg zu finden zu der friedfertigen Andacht eines Matthias Claudius, dessen Abend- und Mondlieder in seinem Munde die zarteste Melodie erhalten? Und indem der eigene Reichtum danach drängt, sich in Klang zu verwandeln, entstehen Verse, die bald in schmetterndem, rhetorischem Rhythmus den Kampf gegen die Zeit und ihre Mißgestalten reimgebunden fortsetzen, bald dem Erlebnis der schlichtesten reinen Menschen- oder Naturoffenbarung in Frömmigkeit huldigen.
Eros fehlt nicht im Bereich der Anlässe, die den Versschöpfer Kraus entzünden; aber er ist nicht der Gott der sentimentalen Gefühle, sondern der Hüter der mystischen Beziehung zur Sprache, dieser Geliebten, mit der ihr eifersüchtigster Liebhaber die beglückendsten und ergreifendsten Abenteuer erlebt. Auf diesem Boden, der Kampfplatz und Liebesnest zugleich ist, widerfahren Kraus die Schicksale, die seinen tiefsten Versen Inhalt und Stimmung geben. Er wirbt um die Entschlüpfende, ringt mit der Übermächtigen, schleicht der sich Versagenden nach und ist stolz auf sein Sklaventum, wo andere sich anmaßen, Beherrscher zu sein. Von dieser Auffassung bestrahlt, gewinnt sein Kampf mit den literarischen Sprachmißbrauchern das eigenartigste Aussehen. Indem er sie befehdet, streitet er gegen den Einbruch in das Reich, das seiner Liebe vorbehalten ist, wehrt er die Ansprüche ab, die Unzulänglichkeit oder Vorwitz auf sein Heiligtum erheben. Es ist der Kampf eines Entflammten, dem selbst die unglücklichsten Stunden der Liebe Beglückung sind, ein Tournier mit Rivalen, die, wenngleich schwächeren Atems, doch in dem Stärkeren den ganzen Haß entladen. Der Tiefsinn dieser Verse erschließt sich nicht leicht; aber da ihr Schöpfer die Gabe besitzt, das, was er singt, auch in der gedankenvollsten Weise zu sagen, das Unbewußte der Eingebung durch die Logik des Nach-Denkens zu ergänzen, führt der Weg des Verständnisses wechselseitig von von der Prosa zum Vers. In der Satire »Literatur« löst sich der sonst in Monologen ausgefochtene Streit auch der Form nach in ein dramatisches Spiel auf, das von genial ersonnenen, nein, glattwegs aus der Wirklichkeit in die Dichtung eingesetzten Figuren belebt wird. In der Darstellung des angemaßten Kontrastes zwischen den Vätern, deren Geschäftigkeit sich im reellen Handel, und den Söhnen, deren Lebenstrieb sich nur scheinbar auf einem erdentrückten Gebiet entfaltet, in der leider phonographisch getreuen Parodie einer arroganten, mit Verfassernamen um sich werfenden Unbildung, in dem mit bewundernswürdiger Feinarbeit gestalteten Spiel der Zitate und Beziehungen wird eine scheingeistige Atmosphäre bei aller Voreingenommenheit und gelegentlichen Grausamkeit so wahrhaft gezeichnet, daß keine kritische Literaturgeschichte dieses lebensvolle und in vielfältigen Tönen klingende Werk übertönen kann, das selbst dort, wo es im Einzelnen vielleicht ungerecht ist, eine höhere Gerechtigkeit übt. Indem derselbe Mann, der die Probleme von Sittlichkeit und Kriminalität als schärfster Durchschauer behandelte, der die Worte in Versen schrieb, der Goethe, Shakespeare, den jungen Hauptmann hinreißend vorträgt, der den Krieg als Tragödie zu grausiger Anschauung brachte, der sich über die Geheimnisse eines Satzes die wertvollsten Gedanken macht, auch die kurze parodistische Glosse nicht nur zur heitersten Wirkung, sondern auch zu hoher Ehre bringt, enthüllt sich in dieser Vielheit der Stoffe und
der Ausdrucksmittel doch immer wieder die Einheit des Menschen, der seine schöpferische Wonne im Wesentlichen findet, im Ursprung, der zugleich das Ziel ist, der unbeirrte Wanderer und Führer zur Wahrheit, der starke kämpferische Sittenlehrer unserer Zeit. Diese Abende des scheidenden Jahres wogen ein ganzes Bündel dessen auf, was man an vielen vorangehenden Abenden an Kunst und Weisheit vorgesetzt erhielt. Mit Kraus’ »Silvestergruß an die Welt« im Ohr kann man dem Gröhlen dieser und mancher noch kommenden Silvesternacht leichter trotzen. L. St.
[Prager Tagblatt, zitiert in: Die Fackel 588-594, 03.1922, 67-70] - zitiert nach Austrian Academy Corpus