Ein übervoller Saal; auf den Sitzen elegantes Damenpublikum, längs der Wände, Kopf an Kopf, in enggeschlossenen Reihen junge und ältere Männer, Studenten, Künstler, Schriftsteller, Kaufleute. An der Kassa und in der Garderobe ein fürchterliches Gedränge; an zweihundert Personen, die Karten verlangen, müssen abgewiesen werden. Dies das äußere Bild des vorgestrigen Kraus-Abends, des vierten seit zwei Jahren. Und wenn auch nur ein Zehntel von all diesen, die sich um Kraus drängten, nicht nur den Polemiker sondern den Künstler suchten, so wars doch ein Erfolg für das intellektuelle Prag, das einem der meistgehaßten und schlechtest verstandenen Schriftsteller ein solches Aufgebot ins Haus schicken konnte.
Kraus mag in diesen Jahren der Reife des Bewußtseins froh werden, daß sich in seinem Zeichen die Gegner banalen Rationalismus’, ungeistiger Bildung und wichtigtuenden »Fortschritts« sammeln. Der Mann, dem ein Satz gelingt wie: »Es ist so furchtbar schwer, sich mit Leuten, die ihre fünf Sinne beisammen haben, zu verständigen«, dieser Mann hat nicht nur den Ruhm, daß seine Sätze mit die erfreuendsten sind, die heute im deutschen Sprachbereich geschrieben werden, sondern auch das Verdienst, daß er die wirklich höchsten Güter des absoluten Geistes vor platt-vernünftigem Zugriff schützt. Daß er bei dieser Arbeit wütend wurde, war seine Pflicht; daß der Grimm seine Muse ward, ist nur natürlich in einer Zeit, an deren Webstuhl der Komödiant mit dem Bildungsphilister in grinsender Gemeinschaft sitzt. Und je schäbiger und schmutziger die Instinkte werden, je mehr sich die Grenzen zwischen Erlebtem und Erlerntem, zwischen dem Geist und der Materie, zwischen Kunst und Technik, Dichtung und Literatentum verwischen, desto heller hebt sich ein Temperament hervor, das an sinnfälligen Beispielen diese Entwicklung klarmacht, mit den Füßen in der Polemik steht, mit dem Scheitel in die Metaphysik ragt.
Mit seiner klaren, klangvollen Stimme las Kraus aus Nestroy, las er aus seinen Glossen und Satiren, den Dialog »Harakiri« und, als endloser Beilall ihn zu immer noch Weiterem nötigte, die Anklagen gegen eine Gesellschaft, die mit erheuchelter Gemütlichkeit die furchtbarste Grausamkeit verbindet. Wieder klang das »Vivos voco, mortuos plango, fulgura frango« wie Posaunenschall in die Menge. Begeistert und erschüttert verließ man nach drei Stunden den Saal. st.
[Prager Tagblatt, 08.01.1913, zitiert in: Die Fackel 368-369, 05.02.1913, 24-25] - zitiert nach Austrian Academy Corpus