Karl Kraus, dessen gestrige Vorlesung in der »Lesehalle« eine Oase in der dürren Einförmigkeit unserer Vortragschronik bildete, hat die Anfänge seiner Popularität der kühnen Polemik zu danken, mit der er vor Jahren gegen geistige Werte anzukämpfen begann, die man in Wien sonst nur stillschweigend anzuzweifeln wagte. Er wirkte durch die Verwegenheit seines Streitrufes und die oft verblüffend witzige Form seiner Satire. Niemandem wäre es damals eingefallen, ihn für etwas anderes zu halten als einen oppositionellen Journalisten, der sich mit dem fast immer erfolgsicheren angreifenden Pathos des Minoritätsbewußtseins gegen die Mehrheit kehrt. Vielleicht trug die ungewollte Einsamkeit und Abgeschlossenheit, in die sich Kraus versetzt sah und die im Laufe der Zeit fast unentrinnbar wurde, dazu bei, daß er sein Schöpfertum lediglich der Negation zugute kommen ließ. Vielleicht auch war die Galligkeit seiner Natur schuld daran. Dann aber kam die Zeit, wo es Kraus vor der Gefolgschaft, die sich jedem Zerstörer ungebeten zugesellt, zu grauen begann und er seine Schriftstellerei vom Objekt unabhängig zu machen versuchte. Immer wieder verkündigt er jetzt, daß er kein Polemiker sei, daß es sich ihm nicht um persönlichen Angriff handle. In der Tat konnte man aus den Worten seiner letzten Jahre eine Art Weltanschauung erwachsen sehen: einen naiven Spiritualismus, der die Herrschaft des Geistes predigt und mit oft ungerechter Wut die Materie verwirft, der alle Gedankenarbeit, an der doch notwendigerweise ein Klümpchen Erdenschwere haften muß, wenn sie auch nur in irgend einer Beziehung fruchtbar sein soll, unbarmherzig ins Reporterhandwerk verweist. Seine Sprache, deren Eigenart und Vorzüge man anerkennen würde, auch wenn er sie nicht beständig im Munde führte, blitzt und schwirrt in den Zuckungen dieses unruhigen Geistes, der stets verneint. Intuitiv wachsen Gedanken aus ihr hervor, und dankbar genug anerkennt Kraus — diesmal in unbewußter Übereinstimmung mit tiefsten Denkern — die vom Individuum fast unabhängige Schöpferkraft der Sprache. Undankbar ist er nur gegen die Männer, welche ihr die Technik abgerungen haben, von der er auch ein Teil hat; wie es denn überhaupt sein Verhängnis ist, daß das Satiriker-Temperament immer wieder von der Stofflosigkeit, deren es sich so gern rühmt, abirrt und sich zum Angriff auf oft recht unbedeutende Gegenstände wendet.
Die »chinesische Mauer«, die er gestern vorlas, gehört darum zu seinen interessantesten Arbeiten, weil hier die Leidenschaft auf ein Gebiet sich ergießt, dessen Bestellung für die Menschheit immerhin eine wichtigere Aufgabe ist, als die Entrüstung über eine unschön stilisierte Lokalnotiz. Das spezifisch Journalistische an Kraus kommt hier kraftvoll zum Durchbruch. Ein Kriminalfall entzündet ihn. Unbeschwert von Voraussetzungen beginnt er Konsequenzen zu ziehen. Die Sprache flammt, die Sätze rasen und ballen sich zur Anklage gegen eine Sexualverfassung, die das geschlechtliche Sich-Ausleben unterbindet. Die Polemik, anfangs aufs Einzelne gerichtet, wächst ins Allgemeine, bäumt sich gegen einen ganzen Erdteil, eine ganze Kultur und strahlt schaurig in verzehrender Weißglut. In solchen Momenten überkommt den Analytiker das Pathos eines Schöpfers.
Auf anderem Niveau steht die satirische Skizze »Das Ehrenkreuz«, deren witzige Logik schon, als die Glosse vor Jahren in der ‚Fackel‘ erschien, heiteres Aufsehen erregte. Feuilletons, in denen sich die Melancholie und der Pessimismus vor karikaturistischer Weltbetrachtung zum guten Teil verflüchtigen, sind »Die Welt der Plakate« und der »Biberpelz«. Vorausgeschickt wurde eine Reihe von Aphorismen, deren Pointen, soweit der Witz die Tiefe verdeckte, volles Verständnis fanden. Dem Vortragenden dürfte es aber — übrigens die Tragik jedes Originellen — nicht entgangen sein, daß die Hörer gerade zum Wertvollsten und Ernsthaftesten den Weg nicht fanden.
Eine Überraschung war die äußere Form der Vorlesung. Kraus ist ein vortrefflicher Sprecher, dessen kühles und scharfes Organ sich schmiegsam in die Ironie eingräbt, aber mit schöner, voller Stärke auch dem Pathos folgt. Die Hörerschaft, die den Saal der »Lesehalle« dicht füllte, begrüßte Kraus mit erwartungsvoller Sympathie und dankte für die Vorlesung mit stürmischem Beifall. st.
[Prager Tagblatt, zitiert in: Die Fackel 313-314, 31.12.1910, 59-60] - zitiert nach Austrian Academy Corpus