Die Literarische Gesellschaft hatte den bekannten Satiriker und »Kulturkritiker« Karl Kraus aus Wien zu einem Vortrag aus eigenen Werken gewonnen. Schon lange vor Beginn füllte gestern Abend eine dichtgedrängte Menge den großen Erholungssaal, um den geistreichen Herausgeber der ‚Fackel‘ und Mitarbeiter des ‚Simplicissimus‘ von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Jedenfalls werden alle der Literarischen Gesellschaft für diese Gelegenheit dankbar sein. Ob aber der Vortragende selbst nicht vielen eine kleine Enttäuschung brachte?[...] Deutlicher kam des Dichters Absicht, die Schwäche der Mitwelt unbarmherzig bloßzustellen, in den nun folgenden Aphorismen zum Ausdruck. Es wäre verlorene Liebesmüh, über Recht und Unrecht dieser kühnen Geistesblitze mit dem Verfasser zu rechten und als Splitterrichter alle ihre offenkundigen Übertreibungen aufzuspüren [...] Überhaupt die Zeitungen, Redakteure, Verleger, Journalisten, ja selbst das Papier, auf dem sie schreiben und drucken, scheinen Herrn Kraus sehr übel mitgespielt zu haben, denn jeder dritte Satz enthielt irgend einen mehr oder minder blutigen Seitenhieb auf die Presse, den »Kropf der Welt«. Sie ist sogar schuld daran, daß — — in Österreich die Schmetterlinge selten werden. [...] Dann mußten Cook und Peary, die Nordpolsucht der Menschheit und der Naturforschungstrieb im allgemeinen und besonderen herhalten, um der Menschheit ganzen Jammer auch von dieser Seite mit beißendem Spott zu übergießen. Ob aber Herr Kraus die Geißel auch noch so eifrig schwingt, die Masse, die er treffen will, lächelt ob seinem zornigen Übereifer und läßt ihm das eigenartige Vergnügen, sich an der bunten Welt zu reiben, »um zu sehen, ob die Farbe heruntergeht«. Sie freut sich an der blendenden Hülle, der geist- und pointenreichen Sprache seiner Satiren, den bitteren Kern der darin versteckten Wahrheiten herauszuschälen, werden sich nur wenige Mühe geben. Viele seiner Satiren sind ja auch als bloße Humoresken genommen prächtige Stücke, die das Lesen lohnen.
[Politisches Tageblatt, zitiert in: Die Fackel 313-314, 31.12.1910, 54-55] - zitiert nach Austrian Academy Corpus