Rezension der Wage

Am Mittwoch veranstaltete Karl Kraus im kleinen Musikvereinssaal seine sechste Vorlesung in dieser Saison vor einem zahlreich erschienenen Publikum. Die erste Abteilung war Peter Altenberg gewidmet und brachte ein Anzahl der schönsten Skizzen aus seinem jüngsten Buche »Semmering 1912«. Kraus war ebenso bedeutend in der Herausarbeitung der lyrischen wie der komischen Elemente und hat »diese von Gott autorisierte Übersetzung des Menschen in die Sprache« mit allen Feinheiten seiner ungewöhnlichen Vortragskunst interpretiert. Daran schloß sich jene in Sarkasmus und flammenden Zorn aufglühende Glosse »Blutiger Ausgang einer Faschingsunterhaltung«, worin Kraus das himmelschreiende Unrecht festnagelt, das man an Peter Altenberg beging, als ihm bei der Verteilung des Bauernfeldpreises die Herren Salten und Trebitsch vorgezogen wurden. In der zweiten und dritten Abteilung folgten Satiren, Dialoge und Glossen, die ein dankbares Publikum mit oft geradezu begeistertem Beifall auszeichnete.

Es ist immer ein eigenartiges und merkwürdiges Erlebnis eine solche Krausvorlesung: wie da ein einzelner Mensch gegen den Zeitgeist Aufruhr predigt, die papierenen Kulissen einer Scheinwelt hohnlachend auseinanderreißt und in Brand steckt, um — ein heimlicher Märchenprinz — zu seinem schlafenden Dornröschen sich durchzuringen, es wachzuküssen und dann in Ehrfurcht vor der überirdischen Schönheit dieser Gottgeliebten hinzuknien — das ist das Deutsche und Romantische an Karl Kraus, ist seine schamhaft verschwiegene Sehnsucht. Wer das nicht fühlt, der hat kein einziges Wort von ihm verstanden und muß sich mit Recht wundern, wie er aus dem Tonfall einer jüdischen Einheiratsannonce den Begräbnisschritt der Concordiamänner heraushören kann, die uns (es scheint bestimmt in Gottes Rat) das Edelste, was wir haben, zur ewigen Ruhe bestatten. Wer davon nichts merkt und auch im Widerschein eines Humors, welcher zum Lachen ebensoweit hat wie zum Weinen, das grauenhafte Bild seiner Umwelt nicht erkennt, wer noch immer nicht beim bösen Klang des Wortes Fortschritt schamrot wird, dem ist nicht zu helfen, da steht Befund gegen Befund! Aber wo ist die Jugend, die starke wagemutige Jugend, die uns aus dem Chaos heraushelfen soll? Wo ist sie? Sie beeile sich, denn ein Dämon hat schon des kühnsten Adlers Schwungfeder in Druckerschwärze getaucht, um mit diesem unheiligen Heilmittel unserer Kultur den Totenschein zu schreiben. [...] Ulrik Brendel.

[Die Wage,  19.04.1913, zitiert in: Die Fackel 374-375, 08.05.1913, 21] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Signatur: 
L-137743
AutorInnen: 
Datum: 
19.04.1913