Vorlesung Karl Kraus. Gestern abends fand denn die erste der beiden angekündigten Vorlesungen von K. K. im Musikvereinssaale statt, der bis auf das letzte Plätzchen gefüllt war. K. hat im gleichen Saale im Jänner 1914 das letztemal hier vorgelesen, wobei er u. a. auch »Tod und Tango« vorlas, das wir wohl auch längst schon als mehr als eine Satire, als eine Prophetie, erkennen mußten. 1914-1920, was liegt nicht zwischen diesen beiden Ziffern! Als K. das vorletzte Mal in Innsbruck las, konnte seine Satire gegen die Kriegsberichterstattung im Balkankrieg noch mehr witzartig wirken, schlugen doch die Völker fern von uns zusammen; diesmal aber trat K. vor uns, nach dem größten und gräßlichsten Krieg, der nur zu sehr unsere eigene Sache war. Und so sollte diesmal wohl jedermann, der in die Vorlesung kam, nichts anderes erwarten als eine Abrechnung mit dem, was war, und mit denjenigen, die daran schuld sind, ein Gericht eines, der dank seiner Haltung von der ersten Stunde an, ja seit seinem Wirken, ein Recht dazu hat. Es sollte kein Witz gefunden werden, wo jedes Wort entweder so unsäglich bitter ernst oder so tief traurig ist, und statt zu lachen, sollte jeder Besucher im Saale sich lieber schämen und sich an die Brust klopfen, daß er solches mit geduldet hat, und wer »schwache Nerven« hat, sollte sich lieber gleich fernhalten, wenn er aber schon hinging und, was sich da begab, nicht ertrug, sollte er sich angemessen entfernen. Nun war ja zu erwarten, daß nicht alle von den vielen Besuchern dieser Vorlesung namentlich Szenen aus »Die letzten Tage der Menschheit« für etwas anderes halten können, als für einen Spaß, aber es begab sich mehr, und das war für die, die es taten, beschämend und ist nur verzeihlich, wenn man die Urheber als gottverlassen und »stolz, Barbaren zu sein«, bereits hinlänglich kennt. K. las an dem ganzen Abend nur aus der Tragödie »Die letzten Tage der Menschheit«, deren »Handlung« ja aus fast fünf Jahren Unmenschlichkeit in Akte und Szenen zu einer gigantisch-furchtbaren Dichtung für die Ewigkeit zusammengetragen worden ist und also mindestens hundert Abende für Vorlesungen ausreichen könnte. Da traten an »Gestalten« auf: der durch seine Gesichtszüge schon hinlänglich bezeichnete, aber doch zum Armeeoberkommandanten ernannte Erzherzog Friedrich, die einzig »zugelassene« Kriegsberichterstatterin und Eindrücke-Hyäne Schalek, zwei Typen von einem Diebsgesindel von Generälen, »Persönlichkeiten« in einem »Vergnügungslokal« am Standort des A. O. K. und Presseköter, die einer aus Rußland gekommenen Schauspielerin von ihr absolut nicht erlebte feindselige »Erlebnisse« erpressen usw. Vor allem aber sprach »Der Nörgler« (K. selbst) ein fürchterliches Gericht über die Zeit von 1914 bis 1918, wie K. auch sein Gebet »Du großer Gott« erschütternd zu Gehör brachte. Den künstlerischen Höhepunkt des Abends bedeutete aber wohl der Monolog des »sterbenden Soldaten«, eine lyrische Dichtung von allertiefstem Erleben, die auch rezitatorisch die höchste Leistung des Abends brachte. Und dann kam zum Beschluß des Abends eine Szene »Wilhelm II. und seine Generäle« (5. Akt, 27. Szene), zu der K. ausdrücklich bemerkte, daß nichts davon erfunden sei, weil niemand so etwas erfinden könnte, und daß jedes Wort als historisch zu beweisen sei; diese Szene trug K. »zur Ehre« jener vor, die sich unter diese Gestalt heute noch zurücksehnen, »die die Menschheit regiert und in den Tod geführt hat«. Dies war nun gewiß für die Leute von der »Deutschen Zeitung« eine starke Zumutung — wenn z. B. Wilhelm der Größte sagte: »welch eine Wendung durch Gottes Fügung« oder sehr »aparte« allerhöchste »Scherze« machte — sie kamen denn auch darüber nicht hinweg, und so trat ein, was man bereits mittags von Hochschülern erfahren konnte: einige Burschenschafter demonstrierten als Götzendiener gegen die »Religionsstörung«, die Nachfolger der Burschenschafter von den 1848-Barrikaden hatten das Bedürfnis zu zeigen, daß ihnen auch nach 1918 noch Knechtschaft höher steht als Freiheit und Menschenwürde, diese »akademische Jugend« wollte zeigen, daß sie auch heute noch weiß, wie man Lausbübereien begeht, die diesmal allerdings ihren Zweck in sein Gegenteil verkehrten. Nach dieser Szene verließ also während des lauten Beifalls, der hier besonders auffällig war, ein bekannter alldeutscher Versammlungsredner, obwohl K. noch etwas über seinen Wilhelm zu lesen begann, den Saal, was wohl das »Signal« war. Denn es wurde nun wiederholt die Saaltür laut zugeworfen und vereinzelt gegen den Pfui-Rufer gegen die Schmach und Schande der Menschheit Pfui gerufen und gepfiffen; dafür setzte aber zugleich ein derartiger Beifallssturm mit Rufen auf K. ein, wie ihn der Saal wohl noch nie gehört hat, und K. selbst rief der »Brut« des Kaisers, die aus dem Saale entfernt wurde, noch den »Fluch eines sterbenden Soldaten« nach, den die Herren hoffentlich noch gehört haben. Neuerlicher, nicht endenwollender Beifall, der eine hier ganz ungewöhnliche Demonstration für K. wurde, folgte dieser herrlichen Abrechnung zugleich als Dank für den lang-ersehnten Abend und als spontanes Bekenntnis. Für die wilhelmischen Schwärmer aber wird man, außer dem Mitleid, dessen sie trotz ihrer Unqualifizierbarkeit sicher sind, doch auch wohl andere Dinge bereit halten müssen, damit Besucher einer hochgeistigen Vorlesung von solchen Bubenschaften und typisch innsbruckerischen Radaustücken beim zweiten Abend verschont bleiben! I. A. S.
[Volks-Zeitung, zitiert in: Die Fackel 531-543, 04.1920, 44-46] - zitiert nach Austrian Academy Corpus