Rezension der Reichspost

Mit nur eigenen Schriften bestritt Karl Kraus seine am 7. d. im Beethovensaale abgehaltene Vorlesung. Nebst kleineren Glossen bekam man »Die chinesische Mauer«, »Das Erdbeben« und »Die neue Art des Schimpfens« zu hören. Die Mühelosigkeit, mit der sich diesem Vorleser allerorten die größten Säle füllen, hat etwas unstreitbar Grandioses an sich. Auch am letzten Freitage waren so viele Hunderte zusammengeströmt, als der Saal nur irgend fassen konnte, von keiner anderen Werbetrommel zusammengerufen, als von der dem Ereignisse innewohnenden Bedeutung. Die Ankündigung einer Krausvorlesung klingt längst wie ein immer wieder erneuerter Kriegsruf, wie die Ankündigung eines reinigenden Gewitters, dem beizuwohnen viele Hunderte — und es sind nicht die Schlechtesten im Lande — nicht versäumen wollen. Von Monat zu Monat weiß Kraus durch seine unerhört kühnen Abrechnungen mit den Torheiten und Gemeinheiten des Lebens immer wieder aufs neue aufzurütteln, und die Stimme dieses einsamen Rufers, dessen Liebe zur Menschheit sich in Haß gegen ihre Entwürdiger umwertet, ist längst nicht mehr zu überhören. Kraus, der Autor und Vorleser, ist vor nicht allzulanger Zeit hier eingehend gewürdigt worden. Unermüdlich türmt dieser Künstler neue Monumente von unserer Zeiten Schande auf und seine stahlharte Stimme über eine atemlose Menge hingellen zu hören, ist immer wieder ein zutiefst aufwühlendes Erlebnis. Manchmal, wenn ein Lachsturm aufbraust, hat man freilich das Gefühl, daß er nicht in letztem Sinne erfaßt und verstanden wurde. Denn immer, auch inmitten des heißesten Granatfeuers seiner Witze, durchbebt ihn unerbittlicher Ernst. Er hat niemals die Lustigkeit des Belustigten. Ihm ist Lustigkeit nur ein Mittel, um ernste Wahrheit aufzudecken. Ein grandioses Gewitter ging nieder. Die Reporter brauchen es nicht zu melden. Denen es galt, die haben die Donnerschläge schon vernommen, und der Hausherr, dem der Blitzstrahl ins Dach fuhr, der zieht vergebens die Bettdecken über die Ohren. H. B.

[Reichspost,  13.02.1913, zitiert in: Die Fackel 370-371, 05.03.1913, 34] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Datum: 
13.02.1913