.... Man kann sich in Wien nicht mehr darauf verlassen, daß der große Musikvereinssaal vor Überfüllung sicher ist, wenn er eine von der Großpresse totgeschwiegene Veranstaltung beherbergt. Man konnte es gestern neuerlich staunend konstatieren: Die Mißachtung der Börseanerpresse ist sogar tief in jene Bevölkerungsschichten vorgedrungen, deren Gesichtszüge eine solche Gegnerschaft und innere Freiheit nicht im mindesten ahnen lassen. Karl Kraus also hielt im Großen Musikvereinssaal, der gestern viel zu kleine war, die Gedenkrede: »Nestroy und die Nachwelt«. Er las die Rede aus dem Manuskript, man wird sie also demnächst im Druck erhalten und wir können uns hier die Danaidenarbeit, einen Auszug aus den gemeißelten Sätzen eines Satirikers über den Wiener Satiriker und Humoristen Nestroy zu versuchen, ersparen. Daß Kraus der Berufensten einer ist, über Nestroy zu reden, das bedarf keiner Erörterung. Der Andrang bewies, daß es in Wien in die Mode kommt, Werturteile abseits von der einst gerade auf literarischem Gebiete allmächtigen Giftpresse zu fällen. Es versteht sich von selbst, daß sich Kraus die Beziehungen zwischen der Gegenwart und Nestroys Schaffen nicht entgehen ließ. Sie bilden den Hauptinhalt und Hauptreiz der Gedenkrede und machen sie hoch aktuell. Es ist überhaupt nicht ganz sicher, ob denn auch wirklich Kraus über Nestroy sprach oder nicht am Ende Nestroy über Kraus. Jedenfalls warf die Marmorstatue, die der Redner belichtete, um sie dem Publikum zu zeigen, Reflexstrahlen auf den Redner. Das ist der billige Lohn redlichen Tuns. Der Gedenkrede ließ Kraus einige gut gewählte Kostproben aus Nestroys Werken folgen — in diesem Raume und mit diesen Mitteln ein unerhörtes Wagnis, das natürlich nur bei jenem Teil der Zuhörerschaft voll gelingen konnte, der über hinlängliche Situationskenntnis verfügte. Wer nestroyfest war, der durfte an diesen Ausschnitten seine helle Freude haben und die beredte Interpretationskunst des Vortragenden bewundern. Der Abend wurde mit einigen, die Applauslust des Publikums herausfordernden Gaben aus Kraus’ eigener Werkstatt beschlossen. th.
[Reichspost, 04.05.1912, zitiert in: Die Fackel 351-353, 21.6.1912, 49] - zitiert nach Austrian Academy Corpus