Rezension der Novina

Karl Kraus, der Wiener Satiriker großen Stils von wahrer geistiger Keuschheit, las am 15. März im Zentral-Saal einige Arbeiten, nicht mit theatralischer, aber mit dramatischer Verve. Kraus hatte viel durch Wien zu dulden, durch dessen Feuilletonmanieren, Unsauberkeit und Unanständigkeit in geistigen Dingen; — eine herbe Spur all dieses Leidens fühlte man in seinen Arbeiten, unter denen der Aufsatz »Heine und die Folgen« am höchsten stand. Das ist ein Stück gewaltiger sichtender Kritik, ein glühender Urteilsblick auf völlig verwirrte Dinge, die die moderne Sentimentalität vor der ehrlichen, definitiven Abrechnung schützt. Unfehlbar schied Kraus das Korn von Spreu in Heines Lyrik — das Korn fand er erst in den letzten Gedichten vor seinem Tod, im »Romanzero« und »Lazarus« — und stellte seine saloppe journalistische Prosa, seine schäbige Polemik, seine posiert übertünchten Banalitäten wohin sie gehören: unter die modernen Narkotika sehr zweifelhafter Konsistenz und noch zweifelhafterer Wirkung.

[Halbmonatsschrift Novina, 24.03.1911, zitiert in: Die Fackel 319-320, 31.03.1911, 65] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

 

Datum: 
24.03.1911