Karl Kraus erschien gestern abend zum erstenmale im Jahreszeitensaale und las aus seinen Schriften vor. Seine plastische Art zu sprechen, gab den Dingen Relief, und die baritonale Wienerische Färbung störte nur anfänglich. Die Gedankenketten und Erkenntnisse, die Kraus zutage fördert, sind zu bedeutend, als daß man sie sich durch irgendwelche Landesfarben maseriert vorstellen möchte. Nach der grotesken Paraphrase »Die Welt der Plakate« rezitierte Kraus einiges aus den Aphorismen. Das geschah mit Einfachheit, aber auch ohne die Pose der Schlichtheit. Manches schöne Monument der Kunst und der Kultur sahen wir unter den Hammerschlägen dieses Denkers in Trümmer gehen, und erkannten im Schutt, daß es aus schlechtem Material bestanden. Mit den hundert nadelspitzen Bosheiten über Maximilian Hardens Stil und Art schloß der erste Teil des Programms. Der Satiriker würde vermutlich die Wirkung vertieft haben, wenn er die Belegstellen aus der Desperanto-Sprache, wie er Hardens Deutsch nennt, dezimiert hätte. Daß Kraus nicht nur zertrümmern, sondern auch zu bauen vermag, hat der aus einer schöpferischen Phantasie gezeugte Essay Die chinesische Mauer dargetan. Die Ermordung der Elsie Siegel im Chinesenviertel wird hier zum Ausgangspunkt einer grandiosen Rhapsodie, die in Donnern zum alten Europa redet. Das zahlreiche Publikum brach nach Beendigung der Vorlesung in stürmischen Beifall aus und brachte dem Autor Ovationen dar. E.
[Münchner Neuesten Nachrichten, zitiert in: Die Fackel 313-314, 31.12.1910, 48-49] - zitiert nach Austrian Academy Corpus