Rezension der Münchener Post

Vorlesung Karl Kraus. Am Donnerstag abend hatte der Münchener Verleger Kurt Wolff eine Anzahl Gäste zu einer Karl Kraus-Vorlesung in das Lesezimmer seines Verlagshauses gebeten. K., einigen, nicht allzuvielen, hier kein Unbekannter, stellte sich diesmal nicht als der gefürchtete angriffslustige Essayist, sondern als Dichter und Interpret vor. Er las eine Anzahl eigener Gedichte voller musikalischer Klangschönheit, dichterischer Bildhaftigkeit und rhythmischer Kraft. (Vielmehr: Die Gedichte strömten klangvoll aus seinem dichterischen Born.) Wie in den Essays ist alles tiefernstes heiliges Erleben, nur noch gesteigert durch Hymnus und Feierlichkeit: Der aus dem Fackelkraus kristallisierte Dichter Kraus. Für einzelne seiner Gedichte gebe ich die ganze moderne österreichische Lyrik her. — K. las dann außerdem ein Stück aus Hauptmanns »Webern«, diesem Drama der Hungerschreie, mit prächtiger Meisterschaft. Hier fühlte man, daß wahre Kunst, auch wenn sie vorübergehender Naturalismus getauft wird, ihre Unsterblichkeit dadurch beweist, daß sie Herz und Stimme des wahren Künstlers lebendig zu machen weiß. Karl Kraus vermochte das. Daß er gerade mit diesem dramatischen Notschrei für die hungernden Wiener Kinder wirbt und sammelt, sei ihm besonders gedankt. Zs.

[Münchener Post, zitiert in: Die Fackel 531-543, 04.1920, 38-39] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

Datum: 
31.01.1920