Karl Kraus, der uns Münchnern vor allem als Mitarbeiter des Simplicissimus bekannte Herausgeber der Wiener Fackel, saß Mittwoch abend im Festsaal der Vier Jahreszeiten am Vortragspult und las aus seinen im Verlag Albert Langen erschienenen Aphorismen und Aufsätzen ausgewählte Bruchstücke. Kraus ist ein Verneiner von seltener Rücksichtslosigkeit, ein Spötter von blitzender Stilgewalt, ein Angreifer von katzenhafter Bissigkeit. Ich möchte den Dämon, der in ihm lauert, eher eine Ausgeburt, denn einen Sohn unserer qualvoll zerrissenen Zeit nennen. Seine Ironie sprüht wie brodelnder Gischt und steigert sich zum pathetischen Haß. Mit affenartiger Behendigkeit hüpft sie in einem Satz dem Zeitgeist ins Genick und hetzt ihn hohnlachend zu Tode. Zu jenem Tode, den eben nur die Lächerlichkeit gebiert. Doch Krausens Lachen klingt selbst abgehetzt, nicht befreiend. Und will es auch gar nicht. Es ist ein kurzes, stoßweis meckerndes Gelächter voll satanischer Bosheit. Es ist, als klänge geheime Lust daraus, daß die Welt so schlecht sei! Aber dies Lachen ist von zeitgemäßer Suggestionskraft. Diese liegt in der unberechenbaren Sprunghaftigkeit der Krausschen Gedankengänge, in der Verwegenheit ihrer Logik, in der aphoristischen Knappheit des Ausdrucks. So bildeten denn auch die besten der vorgetragenen Aphorismen und kürzeren Satiren wohl den Angelpunkt des Abends. Den tollen Reigen eröffnete, frisch und frech wie ein Attackeritt, und durch den lebendigen Vortrag entsprechend pointiert, die Kultursatire Die Welt der Plakate. Dann folgte der beliebte Frontangriff gegen Maximilian Hardens Schreibunarten, für die Kraus den witzigen Namen »Desperanto« geprägt hat. Doch verlor sich hier der Vortrag in die Breite und büßte so manches von seiner Wirkung ein. Unter dem Übermaß von spitzfindigen Zumutungen an seine Fassungskraft ermattete das Publikum sichtlich und rasch. Zumal als sich der Autor schließlich bei der Vorlesung des Essays Die chinesische Mauer — einer leidenschaftlich zugespitzten, von jüngeren amerikanischen Geschehnissen veranlaßten Philippika über die »gelbe Gefahr« und den Kulturbankrott der weißen Rasse — in ein rasendes, von keuchendem Pathos getragenes Tempo hineinhetzte. Doch geizte die Verehrerschar nicht mit ihrem Beifall, der zum Schluß dem unentwegten Skeptiker auf dem Podium sogar mehrfache Verbeugungen ablockte. P.
[Münchener Post, zitiert in: Die Fackel 313-314, 31.12.1910, 49-50] - zitiert nach Austrian Academy Corpus