Karl Kraus gehört zu jenen seltenen Autoren, die das Niveau der herkömmlichen Vortragsabende gleich bei ihrem Erscheinen jeweils mit einem kraftvollen Ruck hoch über die Linie banaler Mittelmäßigkeiten hinaufheben. Mag man über seine Schriften denken wie man will. Als dieser Autor am Samstag abend wieder am Vorlesetisch im Jahreszeitensaal erschien, und den Druckseiten, die er vor sich ausgebreitet, mit den Hammerschlägen seiner Geste, und einer Stimme, die zur Rezitation mehr erzogen als geboren erscheint, die Flammen des Hasses entrang, die seine Größe ausmachen: da erlebte man wieder jenes ganz seltene Eins-Sein von Mann und Wort. Er las erst eine Traum-Vision von Jean Paulscher Kühnheit der Realität, und ging dann zu jenen Aufsätzen über, die wir aus seiner Zeitschrift Die Fackel kennen. Eine Auslese des Positivsten hat Kraus in dem Furioso des Buches »Die chinesische Mauer« (Albert Langen Verlag, München) gegeben. Tiefen und Untiefen, die das gesprochene Wort nicht immer in ganzer Plastik zu umreißen vermag. Der Vortrag einiger seiner Kampfartikel gegen Harden veranlaßte eine erfreulich lebhafte Diskussion, die allerdings nur zwischen den Beifallklatschenden und einer zähen Opposition zum Austrag kam. Von diesem lebendigen Intermezzo kehrte Kraus und seine Gemeinde erfrischt zum Programm zurück, das sich durch immer neue Zugaben bis tief in den Abend ausdehnte.
Das zahlreiche Auditorium fühlte sich, mit einer Fülle von Anregung beschenkt, zu immer neuem Beifall hingerissen. E.
[Münchener Neueste Nachrichten, 31.03.1913, zitiert in: Die Fackel 374-375, 08.05.1913, 22] - zitiert nach Austrian Academy Corpus