Unter dem Titel »Die chinesische Mauer« hat der Wiener Satiriker Karl Kraus (der heute Abend in der Frankfurter Gesellschaft für ästhetische Kultur aus seinen Werken vorliest. D. Red.) bei Albert Langen in München einen Band gesammelter Aufsätze herausgegeben, die ursprünglich zum Teil in der ‚Fackel‘, zum Teil im ‚Simplicissimus‘ erschienen sind. Es ist, wie sich von selbst versteht, ein Band Ketzereien, auch viel Kanalräumerarbeit darunter, aber mit silberner Schaufel verrichtet. Mit dem Satiriker darüber zu rechten, wo er Recht hat, wo er blutig übertreibt, wäre Verkennung des Wesens der Satire, die ihr gut Teil Narrenfreiheit beanspruchen darf und davon lebt, sich immer von neuem darüber zu entrüsten, daß der Herrgott bei der Erschaffung des Menschen mehr Lehm als göttlichen Odem verwendet hat. Der Satiriker muß nur in der Tendenz, nicht in der Tonstärke Recht haben, ja die groteske Übertreibung ist eines der Kunstmittel, durch die er wirkt. Und in der Grundtendenz hat Kraus Recht. Er verteidigt die feinnervige Persönlichkeit gegen die überall sich breit machende selbstzufriedene Trivialität, gegen die Klischees des Gedankens und der ungeprüften Moral. In der Form verleitet ihn die witzige Pointe; in der Sache ist er ein Fanatiker seiner Überzeugung oder, wenn man will, seiner Weltanschauung. Uns mutet er fast tragisch an. Er reibt sich die Hände wund in den Ekstasen seiner Entrüstung und seines Abscheus und muß erleben, daß seine Wutausbrüche von derselben Menge, die er verhöhnt, als Tafelsenf, als mixed pickles zum täglichen Rindfleisch genossen werden. Wir wollen es abwarten, wie lange er den aussichtslosen Kampf gegen das Niederträchtige und Gemeine in allen Formen weiterkämpft. Vielleicht erinnert er sich einst des Sprüchleins von Goethe, das von solchem Kampfe abrät. Bis dahin können wir uns immerhin bei vielem Widerspruch im einzelnen der blutigen Geißelhiebe freuen, die er austeilt. Die meisten Artikel des Bandes sind durch »Aktualitäten« veranlaßt; es spricht für die Qualität der Arbeit, daß sie heute, nachdem der Anlaß fast unserem Gedächtnis entschwunden ist, noch mit dem gleichen literarischen Behagen gelesen werden können wie zur Zeit ihres Erscheinens. Damals wirkten sie wie Schnaps nach schmalzigfetten Gerichten; jetzt als aromatischer Likör. — Dr. H. G. (Wien).
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Im Saale des Kaufmännischen Vereinshauses las gestern Abend auf Veranlassung der Gesellschaft für ästhetische Kultur Karl Kraus, der ‚Fackel‘-Kraus, aus seinem Werk vor. Zuerst die phantastische Skizze »Die Welt der Plakate«, in der die Gesamtheit der uns täglich und stündlich in die Augen fallenden Affichen die reale Welt verdrängt und den unglücklichen Beschauer zum Wahnsinn treibt; dann folgten Aphorismen. Aphoristische Geistesblitze zu verfassen ist bei einigem Training nicht schwer. Es gibt Leute, die täglich nach dem Frühstück ein Dutzend fabrizieren. Die Aphorismen von Kraus unterscheiden sich von gleichnamigen Erzeugnissen dadurch, daß sie nicht von der Freude am Geistreichen diktiert sind, sondern von dem glühenden Haß gegen das Philistertum in jeglicher Gestalt; und so gut hassen wie Kraus können nur wenige. Außer einigen Proben aus seinem Harden-Lexikon brachte der zweite Teil des Programms den Essay »Die chinesische Mauer« (der auch dem in der gestrigen Nummer besprochenen Sammelband den Titel gegeben hat). Es ist erstaunlich, wie Kraus es versteht, einen aktuellen Gegenstand, wie es der Mord der Elsie Siegel durch einen Chinesen war, aus der zeitlichen Sphäre journalistischer Aktualität zu heben und in den denkbar weitesten Rahmen großer Kulturzusammenhänge zu spannen. Die Vortragsweise Kraus’, die zwar in der Verteilung der Höhepunkte unökonomisch verfährt, aber durch das energische Temperament und die eindringliche Überzeugungskraft von starker Wirkung ist, fand bei den Zuhörern vielen Beifall. — x.
[Frankfurter Zeitung, zitiert in: Die Fackel 313-314, 31.12.1910, 51-52] - zitiert nach Austrian Academy Corpus