Der Wiener Schriftsteller Karl Kraus genießt in dem engeren Bezirk seines journalistisch satirischen Wirkens den Ruf eines schrecklichen Drachentöters. Nun hat man ihn am Vorlesetisch im kleinen Saale des Künstlerhauses gesehen und findet ihn gar nicht so wild und fürchterlich. Ein klarer, heller Kopf mit satirischer Veranlagung, der die AngriffsfIächen des öffentlichen, kommunalen und politischen Lebens mit Pfeilen spickt. Den Wienern mag wohl manchmal die Haut jucken. Aber etwas Dämonisches und Abgründiges ist nicht in seiner ganzen Art zu entdecken. Seine feuilletonistische Begabung hat einen veralteten Zug, er walzt seine Ideen allzu breit aus und bringt sich durch die Häufung von mehr oder minder satirischen Einfällen um die Wirkung. Ihm fehlt das Maß, das auch bei der Entfaltung sogenannter »Bosheit« nötig ist. Am meisten ähnelt seine Art der des Spötters Saphir, der ja immer für gefährlicher gehalten wurde, als er wirklich war. Die Gaben, die Kraus in einer zweieinhalbstündigen Vorlesung bot, waren nicht alle gleich. Die Satire auf das Wiener Verkehrsleben, mit der er begann, ist amüsant und jedenfalls in ihren wesentlichen Zügen zutreffend. Sehr belacht wurde die »erzieherische Wirkung des Plakats«, obwohl man sich nicht verhehlte, daß die Fassung etwas an einen geschickt gemachten Varietévortrag erinnerte. Stärker und in ihrer Art künstlerischer waren einige kleine Stücke, zu denen mancherlei Lebenserscheinungen und öffentliche Charaktere der Satire nicht unberechtigten Anlaß gegeben hatten. Kommunale Satiren von rein Wienerischer Färbung können natürlich nur an Ort und Stelle ihre volle Schlagkraft haben. Einseitig erschien der Standpunkt, den Kraus in der Neger-Satire einnahm, hier trat jedoch etwas von der »Wildheit« des Verfassers hervor. Eine vortreffliche Gliederung des Vortrags, musterhafte Aussprache erhöhten den Effekt der einzelnen Sächelchen. Man hat in diesem Wiener, dem die Zustände seiner Heimat so viel Stoff zu bitteren Betrachtungen gaben, einen geschickten, von polemischem Geist erfüllten Journalisten kennen gelernt, an dessen Wirkung auch auf einen großen Zuhörerkreis nicht zu zweifeln ist. hg.
[1913, zitiert in: Die Fackel 389-390, 15.12.1913, 23] - zitiert nach Austrian Academy Corpus