»Karl Kraus kontra Harden«:
Von Karl Kraus, der seit elf Jahren in Wien die Wochenschrift ‚Fackel‘ herausgibt, weiß man längst, mit welcher diebischen Freude er die raffiniert berechnete Mache und besonders den ungenießbaren Stil Hardens karikiert. Darum bot die von Karl Kraus am 30. November im Jahreszeitensaal in München veranstaltete Vorlesung auch demjenigen Vergnügen, der sonst für den Zynismus des Gesellschaftskritikers vom ‚Simplicissimus‘, von der ‚Fackel‘, vom ‚März‘ wenig übrig hat. Kraus verlas mit guter Pointierung seinen im September d. J. im ‚März‘ erschienenen Aufsatz »Desperanto, Versuch einer Übersetzung aus Harden«, eine mit köstlichen Bosheiten durchspickte Verulkung des Hardenschen Stils, der »Desperantosprache, die wie keine andere die Möglichkeit bietet, sämtliche Nationen auf dem gemeinsamen Boden gegenseitigen Mißverstehens zusammenzuführen«. (Folgen einige Proben) .... Im übrigen konnte ich mich nur mit der frischen, originellen Skizze »Die Welt der Plakate« aus der Aufsätze-Sammlung »Die chinesische Mauer« befreunden, auch noch mit einigen witzigen, feingeschliffenen Aphorismen aus den »Sprüchen und Widersprüchen«. Als der Aufsatz über den Newyorker Kuli-Mord an Elsie Siegel (Juli 1909) kam, glaubte ich, daß die in der Buchausgabe enthaltenen krassen Zynismen über chinesische Päderastie wegbleiben werden; aber auch diese verlas Kraus, ohne Rücksicht auf die eleganteren Forderungen guten Geschmacks und zur größten Verlegenheit der zahlreich anwesenden Damen.
[Augsburger Postzeitung, zitiert in: Die Fackel 313-314, 31.12.1910, 50] - zitiert nach Austrian Academy Corpus