Rezension der Arbeiter-Zeitung

Vorgelesene Operetten.

Zum Offenbach-Zyklus von Karl Kraus.

Karl Kraus hat zum 110. Geburtstag Jacques Offenbachs einen Operettenzyklus angekündigt, die Vorlesung von acht Operetten an sieben Abenden. Wenn sich der Vortragende auf musikalisches Gebiet begibt, hat er das Recht darauf, daß sein künstlerisches Vorhaben vor allem vom musikalischen Standpunkt aus betrachtet werde. Bevor aber diese Besprechung erfolgt, sei mir eine persönliche Bemerkung gestattet. Um die Operettenvorlesungen würdigen zu können, habe ich mir zu vier Vorlesungen — das waren »Pariser Leben«, »Die Briganten«, »Die Großherzogin von Gerolstein« und »Blaubart« — Karten gekauft und mir damit, wie jeder andere, das Recht des Hörens, das ja für eine Berichterstattung notwendig ist, gesichert. Dienstliche Verpflichtungen hielten mich ab, auch die andern Abende zu besuchen, so daß ihre Besprechung einer späteren Gelegenheit vorbehalten bleiben muß. Im Höflingslied des Grafen Oskar aus dem »Blaubart« fügte nun der Vortragende am fünften Abend andern aktuellen Zeitstrophen eine an, die das Schweigen der gesamten Presse gegenüber Kraus zum Inhalt hat. Wenn er in den Vorwurf auch die Arbeiter-Zeitung einbezieht, so entfernt er sich damit von der Wahrheit. Seine Bücher, Schriften und Vorträge sind stets, der Bedeutung des Autors gemäß, gewürdigt worden wenn sich für eine Tageszeitung Anlaß dazu bot. Eine musikalische Kritik der Operettenvorlesungen ist allerdings bis jetzt noch nicht erschienen; der angekündigte Zyklus war zu ihr eine erwünschte Gelegenheit. Um so erstaunlicher ist es, daß sie der Vortragende in einer verlesenen Bemerkung vorwegnahm, die er unmittelbar an die erwähnte Zeitstrophe anreihte: Ein Vertreter des »Zentralorgans«, ein »Schlieferl« — das bin nämlich ich — sei im Saale anwesend und werde den Lesern klarmachen, daß Kraus musikalisch nicht genüge. Diese Beschimpfung, mit der sich nicht die Kritik, sondern das Gericht zu beschäftigen hat, kann mich weder davon abhalten, meine Meinung offen auszusprechen, noch dazu veranlassen, sie in irgendeinem Punkte zu ändern.

Kraus weiß genau, warum er auf seine musikalischen Mängel hinweist. Der Musiker hört schon nach wenigen Takten, daß dem Vortragenden die Fähigkeit fehlt, Melos und Rhythmus durch seinen Gesang auszudrücken. Die Begleitung zu dem Sprechgesang ist holperiges Klavierspiel, das Georg Knepler hinter einem Wandschirm besorgt. So ist der rein musikalische Eindruck sehr dürftig. Nun ist Offenbach nicht nur Meister der Karikatur und des Witzes, sondern vor allem ein großer Musiker. Er hat seinen Melodien eine ganz bestimmte formale und klangliche Gestalt gegeben, die zu bewahren, genau zu bewahren, vor allem Aufgabe jeder Offenbach-Erneuerung sein muß. Offenbach schreibt für Orchester, verschiedene Singstimmen, Chor und Ensemble. Jede Note steht an ihrem richtigen Platz, jedes Instrument ist durch seinen Klang für die musikalische Wirkung unentbehrlich, ebenso die Szene, ohne die jede dramatische Musik fast unverständlich wirkt. Daß Kraus gegen den Kitsch und den Flitterkram der Operette kämpft, daß er bemüht ist, nur ihre künstlerische Essenz zu geben, erkennt jeder geistige Mensch freudig an. Daß er jedoch durch die Verunstaltung der Musik, die er ihrer eigentlichen Ausdrucksmittel beraubt, dem wichtigsten künstlerischen Element der Offenbach- Operette nicht gerecht wird, darf nicht übersehen werden. Sicherlich ist es eine beträchtliche artistische Leistung des Vortragenden, die verschiedenen singenden Figuren auseinanderzuhalten und fast immer verständlich zu bleiben, obwohl bei ihm von einer Technik des musikalischen Vortrags in keiner Beziehung gesprochen werden kann — eine Leistung, die etwa der Vorlesung eines Bühnendramas durch eine Person vergleichbar wäre. Dadurch wird das Staunen und die Bewunderung der Hörer erregt, ihre Aufmerksamkeit aber ausschließlich auf den Vortragenden gerichtet und vom musikalischen Kunstwerk selbst abgezogen. Das Experiment ist sicherlich ungemein anregend, hat aber mit der Musik, wie sie der Komponist formte, nichts zu tun. Der Schwerpunkt verschiebt sich bei Kraus vom Musikalischen zum Literarischen. Dafür spricht auch, daß die rein lyrischen Stellen, die gerade Offenbachs Kunst am stärksten enthüllen, gegenüber den meisterhaft vorgetragenen Couplets fast unbeachtet bleiben.

Es kommt Kraus in der Tat gar nicht auf die Musik an. So fehlen in dem Zyklus die musikalisch wertvollsten Werke Offenbachs: »Orpheus in der Unterwelt« und »Die schöne Helena«. Dem Satiriker Kraus liegen nur die Texte nahe, die Offenbach seinen Melodien unterlegt hat. Meilhac und Halévy und wie die andern Satiriker des dritten Kaiserreiches heißen mögen, verhöhnten Gesellschaft und Scheinkultur ihrer Epoche. Das war neben der Musik das große Geheimnis der Wirkung dieser Operetten. Kraus überträgt nun die Satire auf unsere Zeit. Er ändert ihr Objekt und so ist jetzt in denOffenbach-Couplets von Bekessy, Schober, Kerr, Lippowitz und — nach dem Geschmack des Autors in einem Atem — auch von der Arbeiter-Zeitung, dem »Krupnik-Organ«, wie er sie schmäht, und von einzelnen Sozialdemokraten die Rede. Wir sind gegen Beschimpfungen, die wir ja von allen Seiten gewohnt sind, immer gleichgültig gewesen und sind nicht so empfindlich, diese Aufzählung durch Verschweigen unserer Namen unvollständig zu lassen. Es ist klar, daß Kraus die geradezu elementare Wirkung auf sein Publikum als Schriftsteller durch Polemik und Satire erzielt, deren Höhepunkt diese neuen Zeitstrophen bilden. Er hat neben den Couplets die Sprache der Prosadialoge unvergleichlich ausgefeilt, so daß man ähnlich wie von Buchdramen hier von Buchoperetten sprechen könnte, deren Würdigung eigentlich nicht dem Musiker, sondern dem Literaturfachmann zustehen würde. Der Zyklus müßte richtiger nach Meilhac, Halévy und Millaud benannt werden. Offenbachs Musik ist und bleibt lebendig, aber nur im Orchester und auf der Bühne, für die er sie geschrieben hat, nicht am Vorlesetisch, wo Offenbach von Karl Kraus verdrängt wird.

Dr. Paul A. Pisk.

[Arbeiter-Zeitung, 08.1929, zitiert in: Die Fackel 811-819, 29.02.1912, 85-87] - zitiert nach Austrian Academy Corpus

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Datum: 
09.06.1929