Erinnerung von Willy Haas

Daran, daß Karl Kraus in Prag den Eingang zu unseren Kreisen fand, war ich selbst der Hauptschuldige: Ich selbst hatte ihm diesen Eingang weit geöffnet.  Ich hatte damals ein Amt bei einem Prager deutschen literarischen Studentenverein, das mir ermöglichte, Vorlesungen in einem Saal zu veranstalten. Ich lud als ersten Karl Kraus ein, dessen „Fackel“ ich seit Jahren las, und der in Wien ein paar sehr erfolgreiche Vorlesungen aus seinen Schriften gehalten hatte. Karl Kraus kam – es war seine erste Vorlesung im alten Prag. Ich versprach ihm eine zweite Vorlesung: aber so stark war der Druck der Protektoren des Vereins gegen den Satiriker, daß mir die zweite Lesung vom Vorstand versagt wurde. Ich trat aus dem Verein aus und tat mich mit einem jüngeren Freund, dem Dichter Franz Janowitz zusammen, und wir beide veranstalteten die zweite Vorlesung sozusagen auf eigene Rechnung und Gefahr. Das Risiko war übrigens nicht groß, der Saal, genannt „Mozartsaal“, war bald ausverkauft: Karl Kraus war ein wundervoller Vorleser seiner eigenen Satiren und vielleicht noch ein besserer Vorleser aus Werken Jean Pauls ,Claudius' und Nestroy.

[Willy Haas, Die literarische Welt. Erinnerungen, München 1960, zitiert nach: Friedrich Pfäfflin (Hg.), Aus großer Nähe. Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern, Göttingen 2008, 222]

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Datum: 
1960