Der Saal war brechend voll, als wir dort eintrafen. Kraus kam aufs Podium, ein zerbrechlich wirkender, grauhaariger Mann; er wirkte leicht gebeugt, eine Schulter war etwas höher als die andere. Als er zu sprechen begann, überraschte die Kraft und die Klangfülle seiner Stimme, ihre hinreißende Modulationsfähigkeit, ihre unglaubliche Lebendigkeit. Er hatte ein klares, scharf geschnittenes Gesicht; das ausdrucksstarke Spiel seiner Hände fiel auf. 1916 gegen den Krieg zu protestieren und seinen Spott auszugießen über die Heerführer, von denen viele zur kaiserlichen Familie gehörten – dazu gehörte Mut. Er attackierte die Autoren, die Schriftsteller und Dichter, die den Tod auf den Schlachtfeldern feierten, während sie sich’s hinter dem Schreibtisch gemütlich machten. Das Publikum schrie, heulte, lachte und jubelte. Auch ich weinte, lachte und klatschte Beifall und Berthold [Viertel] strahlte zufrieden.“
[Salka Viertel, Das unbelehrbare Herz, Hamburg/Düsseldorf 1970, zitiert nach: Friedrich Pfäfflin (Hg.), Aus großer Nähe. Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern, Göttingen 2008, 229]