Erinnerung von Rudolf Fernau

Eine fast klein zu nennende Gestalt mit etwas hochgezogener linker Schulter, einem versenkten Privatgelehrtengesicht und verhängten Augen hinter dicken Brillengläsern setzt sich unter tosendem Willkomm-Applaus, den er nur mit einem lässig beiläufigen Kopfnicken registrierte, an den Vorlesetisch. Alarmiert spitzte ich die Ohren, als er begann. Wo und wann war dieser nasale Fanfarenton schon an mein Ohr gedrungen? Wo hatte ich dieses erregende Stimmtimbre schon gehört und noch nicht vergessen? […] Immer mehr sich steigernd, peitschte er seinen Hohn auf die Verantwortlichen und schwang seine Wortgeißel in unbarmherziger Züchtigung über alle falschen Zeitgötter. Mit arretierendem Polizeigriff schleppte er sie gellend vor sein Tribunal […]. Dann aber spitzte er die Lippen zu einem kräuselnden koketten Mündchen, und die Jünger kreischten auf im Vorgenuß des kommenden Vergnügens. Es war das ›Mündchen‹ von Alfred Kerr. […] Betäubt und lichterloh für Kraus brennend, verstand ich kaum, als [Walter] Gynt mich […] fragte: »Ist dir nichts aufgefallen?« Das gleiche Stimmtimbre und die gleiche Diktion Kraus – Kortner? Er hat als junger Mensch ihn sich zu eigen gemacht und steht jetzt auf seinen Schultern. Nur eben ist Kortner der größere Schauspieler. Wir stehen alle auf den Schultern eines anderen. Kraus steht auf den Schultern des dämonischen Mitterwurzer.

[Rudolf Fernau, Als Lied begann’s. Lebenstagebuch eines Schauspielers, Frankfurt 1972, zitiert nach: Friedrich Pfäfflin (Hg.), Aus großer Nähe. Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern, Göttingen 2008, 233-234]

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Datum: 
1998